Vom Tattoo bis zur Aktie
Eigentum kann viele Formen haben – manche können der unendlichen Steigerbarkeit der kapitalistischen Anhäufung entgegenstehen
Von Andreas Gehrlach
Die ungebremste Anhäufung von Eigentum ist gesellschaftlich hochproblematisch, führt zu kolonialem und ökologischem Raubbau und zur Zerstörung unseres Planeten. Die in der westlich-kapitalistischen Kultur vorgenommene Trennung in unterschiedliche Formen des Eigentums ist quantitativ unendlich steigerbar und juristisch verästelt, lässt sich aber auf die drei Grundkonzepte Eigentum, Besitz und Nießbrauch zurückführen: Ich habe den Schreibtisch, an dem ich sitze, zum Eigentum. Die Wohnung, in der ich zur Miete wohne, ist mein Besitz, und wenn diese Miete an eine andere Person als den*die Hauseigentümer*in fließt, liegt eine Nießbrauchsregelung vor.
Diese Schematisierung ist juristisch klar und wird mit immensem politischem Einsatz durchgesetzt, der im Fall von Hausbesetzungen, Diebstählen oder anderen Vergehen gegen die gesetzlichen Eigentumsregelungen um einen ebenso bemerkenswerten polizeilichen Einsatz ergänzt wird. Diese Perspektive blickt aus einer Tradition rechtsphilosophischer Eigentumsüberlegungen auf Fragen des Eigentums und übersieht dabei viele weitere Stufen und Schattierungen von Eigentum. Diese werden deutlich, wenn man in den Blick zu nehmen versucht, wie Menschen die Dinge in ihrem Eigentumsbereich tatsächlich nutzen.
Ein solcher Versuch einer »Praxeologie des Eigentums« macht schnell deutlich, dass Eigentum als die dominante Form der Dingbeziehung in unserer Kultur komplexer ist als die skizzierte Dreiteilung, weil offenbar unterschiedliche Intensitäten von Eigentum bestehen: Es liegt nahe, dass den Vermietenden von Wohnungen das eigene Smartphone, ein besonders gern getragener Pullover oder die Lieblingskaffeetasse auf eine diffuse Weise näherliegen als die vermietete Wohnung – obwohl alle drei Fälle unter dasselbe Raster von Privateigentum fallen.
Eine erste zusätzliche Trennung der verschiedenen Arten von Eigentum findet sich schon bei Karl Marx, der zwischen »bürgerlichem Privateigentum« unterschied, das aus der Ausbeutung der Arbeit anderer besteht, und »personalem Eigentum«, das der Person zukommt, die Eigentumsanspruch auf etwas erheben kann, weil es ihrer eigenen Arbeit entsprang und weil ein täglicher und körperlicher Umgang damit besteht. Es gibt demnach Gegenstände, die auf eine seltsame Weise unantastbar sind, die dem*der Eigentümer*in »gelassen werden können« und die dem Menschen auf eine intime Weise nahe sind. Es lohnt sich, dieser Unantastbarkeit etwas nachzugehen und damit diejenigen Dinge und Bereiche herauszustellen, die ein besonders personales oder sogar intimes Eigentum von Personen darstellen und die im Normalfall dem Ausbeutungszusammenhang entgehen, in den wir verstrickt sind. Der Soziologe Daniel Miller konnte ein ganzes Buch über den »Trost der Dinge« schreiben, die die Menschen um sich haben, und es lohnt sich, diese positive und fast utopische Konnotation von ganz alltäglichen Dingen näher zu verfolgen.
Privates und personales Eigentum
Der sozialistische Diskurs betrieb einen immensen Aufwand, klare negative Konzeptionen von Eigentum zu verfassen und möglichst klarzustellen, was nicht zu Privateigentum werden durfte: Insbesondere die Privateigentümerschaft an den Produktionsmitteln wurde im marxistischen Theoriediskurs vehement bestritten. Vor dieser Folie ist es aber sinnvoll, eine positive Form von Eigentum zu beschreiben, die durchaus von Marx’ Unterscheidung zwischen »privatem« und »personalem« Eigentum ihren Ausgang nehmen kann. So fällt als erste Beobachtung auf, dass diese Eigentumsbeziehung in einer Art Spektrum besteht: Die Taschen, in denen jeden Tag Notizbücher, Romane, Hygieneartikel, Mäppchen mit Lieblingsstiften und einige materiell wertlose, aber für den/die Träger*in hochbedeutsame Dinge untergebracht sind, gehören auf eine sehr starke Weise zu der jeweiligen Person. Ebenso sind die eigenen Schuhe, die warme Bettdecke, der Krimskrams auf dem Fensterbrett, die Urlaubsfotos auf dem Handy oder das Bücherregal auf eine viel stärkere Weise ein sehr persönliches Eigentum als das alte Kinderfahrrad in der elterlichen Garage, der seit Jahren unausgepackte Umzugskarton im Keller oder die vor Jahren verliehene Bohrmaschine. Regelrecht abstrakt und kontingent wird Eigentum, wenn es um Aktien, Anteilscheine, Grundbucheintragungen oder anderes Eigentum geht, das buchstäblich nur noch auf dem Papier existiert, zu dem aber keinerlei persönliches Verhältnis mehr besteht.
Der Ökonom und Soziologe Thorstein Veblen beschreibt Eigentum in dem Aufsatz »The Beginnings of Ownership« als graduelle Angelegenheit, die von den allerintimsten Dingen langsam in die Natur übergeht. Unter den intimsten Dingen versteht Veblen in einer ethnologischen Perspektive zuerst die Tattoos, die so eng bei uns sind, dass sie sogar unter unserer Haut liegen, dann unsere Spiegelbilder, unseren Atem, Schmuck und die Kleidung, danach unser täglich benutztes Werkzeug und andere Dinge und Behälter, die uns direkt umgeben. Ab dann wird Eigentum immer situativer, kontingenter und bedingter und gehört immer mehr einem Raum an, in dem auch andere einen legitimen Anspruch darauf erheben können und der langsam in eine unberührte und ohne Eigentumsanspruch existierende Natur übergeht. Roland Barthes sprach von »konzentrischen Kreisen« an Eigentum, die uns umgeben und in deren Mitte wir selbst stehen.
Der Bereich, von dem wir sagen können, dass er uns gehört, geht nicht weit über das persönliche Eigentum in unseren »Behältnissen« hinaus.
Die Überlegungen Erwing Goffmans kommen aus einer etwas anderen Richtung, führen aber zu einem ähnlichen Ergebnis. In seinen Untersuchungen zu den »totalen Institutionen«, die Michel Foucaults Überlegungen zu psychiatrischen Einrichtungen, Gefängnissen und Kasernen in weiten Teilen vorwegnehmen, beobachtet der Soziologe, dass den Menschen, die in diese Institutionen eingeschlossen werden, ihr Eigentum weggenommen wird, und dass eine der subtilen Widerstandsformen in totalen Institutionen darin besteht, solche Individualräume des Eigentums für sich anzulegen. Bei der Einlieferung ins Gefängnis werden die Taschen geleert, und in den Konzentrationslagern begann der Entmenschlichungsprozess mit der Beschlagnahmung der Koffer. Kleine Verstecke, Behältnisse oder Bereiche für Eigenes zu finden, ist eine Widerstandshandlung, die nicht zu unterschätzen ist: So beschreibt beispielsweise Primo Levi in seinen autobiografischen Texten über die Konzentrations- und Vernichtungslager der Nazis, wie sogar ein in die Wand geschlagener Nagel, an dem persönlichen Gegenstände aufgehängt werden können, eine Stabilisierung der eigenen Subjektivität und damit eine Widerstandshandlung bedeuten kann, die das eigene Menschsein rettet.
Was war das erste Werkzeug der Geschichte?
Eine weitere und dezidiert feministische Perspektive auf diese kleinen, aber höchst wichtigen Eigentumsräume wird von Ursula K. Le Guin in »The Carrier Bag Theory of Fiction« beschrieben. Dort stellt Le Guin Überlegungen an, was das erste Werkzeug der Menschheit gewesen sein könnte. Meist wird angenommen, dass dies eine Waffe war: eine Keule, ein Messer, ein Speer oder eine Axt, also ein gewaltsamer und letztlich phallischer Gegenstand. Le Guin zufolge ist es jedoch mindestens ebenso wahrscheinlich, dass das erste Werkzeug der Menschen eine Rindenschale war oder eine Art Korb, eine Tragetasche oder ein anderes Behältnis, mit dem Nahrung und andere Dinge gesammelt und umhergetragen werden konnten, um sie in ein größeres Behältnis, also ins Zelt oder die Hütte zu tragen, wo sie geteilt werden konnten. Weil Sammler*innen in der Geschichte der Menschheit ökonomisch weit wichtiger waren als Jäger*innen, läge es nahe, dass ein Behältnis, in dem persönliche Dinge mit sich umhergetragen werden konnten, das erste und wichtigste Werkzeug der Menschheitsentwicklung gewesen ist. Die Relevanz einer solchen Ursprungserzählung liegt vor allem in ihrem Modellcharakter: Die Beschreibung von etwas Ursprünglichem, vom »Allerersten«, hat immer auch einen normativen Anspruch, der nicht nur festlegt, wie es war, sondern auch, wie das Jetzt und Heute beschaffen sein sollte.
Wenn der legitime Anspruch auf Eigentum sich nur auf den Bereich persönlicher, individueller oder intimer Gegenstände erstrecken kann, also auf das jeden Tag genutzte oder bewohnte, entsteht eine neue Definition von Eigentum, die bei Marx zum ersten Mal andeutungsweise aufscheint: Der Bereich, von dem wir sagen können, dass er uns gehört, geht nicht weit über das persönliche Eigentum in unseren »Behältnissen« hinaus. Diese Behältnisse sind die Kleidung, Taschen, Koffer, die Zimmer und Wohnungen oder die ganz weit unters Bett geschobene Schuhschachtel mit den alten Fotos und Souvenirs.
Auch das in diesen Behältnissen enthaltene »Werkzeug« gehört dazu: das Handy, der Laptop, die Zahnbürste, unsere Bücher, Taschenmesser, Spiegel und wichtige Erinnerungsstücke, die uns als Person ausmachen. Sobald eine Sache außerhalb von diesem Bereich liegt und nur eine Art ideelle Funktion hat, also mehr zu einem abstrakten, juristischen »Ich« gehört als zum Körper und seiner unmittelbaren Umgebung, ist sie kontingent, ist eher ein Ballast und steht in einer fragwürdigen Beziehung zu uns. In diesem abstrakten Bereich ist es fast egal, ob es um nie getragene Kleidungsstücke geht, die man aber dennoch besitzen will, oder um Aktien, durch die man reich sein möchte. Beides gehört einem nicht wirklich.
Utopischer Klang
Auch ökologisch ist eine kleinere, bescheidenere oder begrenzte Definition von Eigentum sinnvoll, die von absolut zu schützenden Individualräumen des Eigentums ausgeht, die nahe um den Körper der besitzenden Person herum organisiert und gegen staatlichen, polizeilichen oder politischen Zugriff zu schützen sind. Diese Eigentumskonzeption hat in der erzählenden Literatur, in ethnologischen und soziologischen Forschungen eine Vielzahl an Beispielen erhalten, von denen hier nur wenige genannt wurden.
Kein Mensch besitzt mehr als seine Behältnisse.
Diese Liste könnte sehr viel weiter fortgeführt werden: John Berger beschreibt die Kämpfe, die Arbeitsmigrant*innen in den 1950er und 1960er Jahren darum geführt haben, dass ihre Koffer unantastbar sind, und die Seemannskisten von prekarisierten Schifffahrts-Arbeiter*innen und Piraten haben bei B. Traven und sogar in Robert Louis Stevensons »Schatzinsel« eine präzise und das Subjekt schützende Funktion.
Die Eigentums-Kleinräume haben also nicht nur bei Veblen, Goffman, Levi und Le Guin einen positiven und affirmativen Status. Weit darüber hinaus kann diese Form von Eigentum in bestimmten Situationen sogar widerständig sein. Sie trägt schnell einen utopischen Klang, der der kapitalistischen Logik unendlicher Akkumulation widerspricht. Es lohnt sich also, eine antikapitalistische und affirmative Funktion von Eigentum zu skizzieren und zu diskutieren, die dem kleinen, persönlichen Eigentum eine positive Rolle zugesteht, während das ins Unendliche strebende Eigentum des Kapitalismus nicht nur als ungerecht dargestellt wird, sondern sogar im Grunde als etwas, das die Superreichen gar nicht wirklich besitzen: Auch sie können nur in einer einzigen Wohnung wohnen, von nur einem Teller essen, haben nur eine oder zwei Taschen bei sich und können nur in einem Bett schlafen. Kein Mensch besitzt mehr als seine Behältnisse.