Menschen sterben, Kurse steigen
An der Börse läuft es rund, weil die Wirtschaft im Lockdown light geschont wird
Von Stephan Kaufmann
Weltweit infizieren sich immer mehr Menschen mit dem Coronavirus, die Zahl der Toten hat schon lange die Millionengrenze überschritten. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie werden die Wirtschaftsleistung dieses Jahr schrumpfen lassen – und die Börse feiert Rekorde. Nun sollte man Börsenkurse einerseits nicht zu ernst nehmen. Andererseits aber erzählt das Kurshoch einiges über die aktuelle Situation. Wesentlicher Grund für steigende Infektionszahlen ist die Tatsache, dass die Bekämpfung der Pandemie nicht besonders strikt ausfällt. Eingeschränkt wird vor allem das Privatleben. Um die Unternehmen nicht zu stark zu belasten, wird in Büros und Fabriken weiter gearbeitet und infiziert, ebenso in Kindergärten und Schulen, die möglichst offen bleiben sollen, damit die Eltern zur Arbeit gehen können. Ökonomisch ist das erfolgreich: »Zumindest die deutsche Industrie wurde bisher durch die gestiegenen Infektionszahlen und die neuerlichen Corona-Einschränkungen nicht spürbar beeinträchtigt«, so die Commerzbank. Das bedeutet: Die Börsenkurse steigen derzeit nicht trotz der steigenden Infektionen, sondern weil der Lockdown beschränkt bleibt, was mehr Covid-19-Erkrankte nach sich zieht.
Da die Wirtschaftsleistung dieses Jahr trotz aller Schonung der Unternehmen schwach sein wird, springen die Staaten ein: Sie verschulden sich im Rekordtempo und lassen ihre Zentralbanken für Billionen Euro und Dollar Staatsanleihen aufkaufen. Das drückt zum einen die Zinsen nahe null Prozent und pumpt zum anderen massenhaft Liquidität in das Finanzsystem. Diese Liquidität fließt zum Teil an die Börsen – und dort in Aktien, die für Anleger umso attraktiver werden, je niedriger der Zins für festverzinsliche Papiere ist. Das bedeutet: Die Börse steigt nicht trotz der Konjunkturflaute. Sondern weil die Konjunkturflaute die Zinsen drückt. Die jüngsten Kursrekorde sind einer »Corona-Impfstoff-Euphorie« (DZ Bank) geschuldet. »Wenn das Impfen gut anläuft und die Infektionszahlen sinken, werden die Menschen zuversichtlicher und konsumieren und investieren mehr«, erklärt das unternehmensnahe Institut IW. Normalerweise, so erfährt man derzeit, dauert die Entwicklung von Impfstoffen zehn bis 15 Jahre. Dass es dieses Mal nur zwölf bis 18 Monate sein werden, ist weniger ein Triumph der Wissenschaft oder der »Sozialen Marktwirtschaft«, wie die unternehmensnahe Denkfabrik INSM frohlockt. Sondern schlicht ein Triumph des Geldes: Die Staaten haben die Impfstoffentwicklung mit Milliarden gefördert und den Pharmakonzernen Abnahmegarantien gegeben.
Das zeigt, was alles möglich ist, wenn Geld fließt. Und es zeigt umgekehrt, dass die Millionen Toten im Zuge von Malaria und anderen Krankheiten keine Opfer einer Naturkatastrophe sind, sondern Opfer des Wirtschaftssystems.