»Bedeutet unser Leben nichts?«
Im Interview berichtet Rosa Sabetnia vom Alltag in einer Flüchtlingsunterkunft und Protesterfahrungen während der Corona-Pandemie
Interview: Nikolai Huke
Rosa Sabetnia hat als Journalistin im Iran gearbeitet. Sie lebt mit ihrer Familie seit 23 Monaten in Deutschland und beteiligt sich an Protesten für bessere Bedingungen in Flüchtlingsunterkünften. Im Gespräch schildert sie die Zustände in der Flüchtlingsunterkunft am Albert-Einstein-Ring in Hamburg.
Können Sie mir beschreiben, wie Sie und Ihre Familie untergebracht sind?
Rosa Sabetnia: Wir haben ein 18m² großes Zimmer. Unser Sohn ist zwölf Jahre alt und geht zur Schule. Im Zimmer befinden sich ein Kühlschrank, Lebensmittel, Schränke, Betten sowie ein Schreib- und Esstisch. Das heißt, für uns bleibt kaum Platz, sich da frei zu bewegen. Wir essen, wir schlafen, das Kind geht zur Schule und das Ganze passiert in einem Raum. Das bedeutet für mich persönlich, so wie auch für alle anderen Familien, man kommt da nie zur Ruhe. Es ist immer unruhig. Es ist immer etwas los, es ist immer laut. In jedem Stockwerk leben zwischen 24 und 28 Familien. Es gibt eine gemeinsame Küche, ein gemeinsames Bad, gemeinsame Toiletten. Sechs Familien teilen sich eine Küche, eine Toilette, aber für Frauen gibt es nur am anderen Ende des Flurs eine Dusche. Dort teilt man die Dusche mit den Frauen aus zwölf Familien. Das sind ewig lange Flure mit Zimmern auf jeder Seite. In der Mitte ist die Küche und am Ende ist dann die Toilette und das Bad.
Wie hat sich Ihr Alltag durch die Corona-Pandemie verändert?
Seit dem Beginn der Corona-Pandemie gab es bestimmte Regeln, und es wurden überall Zettel vom Gesundheitsamt aufgehängt, mit den Regeln zu Abstand, Masken und Hygiene. Sie hingen in jedem Flur und an jeder Tür. Allerdings sind die hygienischen Zustände hier schon immer miserabel, auch weil so viele Menschen auf einem Haufen leben. Die ausgehängten Abstands- und Hygieneregeln können in keiner Art und Weise eingehalten werden. Es gibt keine Möglichkeit, Abstand zu halten. Was von uns Menschen gefordert wird, können wir gar nicht tun, weil die Bedingungen es verunmöglichen. So befinden sich etwa teilweise fünfzehn Personen plus Kinder in der Küche, weil zwei Familien sich jeweils zwei Herdplatten teilen. Wenn alle Familien gleichzeitig zum Kochen kommen, was zum Teil auch passierte und noch Kinder dazu kamen, stand man sehr nah beieinander und atmete die gleiche Luft ein.
Rosa Sabetnia
nimmt an Protesten teil, die zur Unterstützung von Geflüchteten in Deutschland und auf der ganzen Welt organisiert werden. Darüber hinaus arbeitet sie mit Amnesty International in Hamburg zusammen. Im Fokus stehen dabei die Menschenrechtsverletzungen im Iran. Sie selbst gehört einer ethnischen Minderheit an, die im Iran Opfer von Diskriminierung, Gewalt und Ungerechtigkeit geworden ist.
Hatten die Regeln dann überhaupt einen Effekt?
Das ist wirklich sehr merkwürdig gewesen, als die Regelungen mit dem Abstandhalten, Masken und Hygiene eingeführt wurden. Der Effekt war in erster Linie, dass wir unsere Sozialarbeiter nicht mehr gesehen haben. Die kamen zwar zur Arbeit, aber es war alles abgeriegelt mit Glasscheiben und Abstand halten. Wir durften uns dem Büro nicht nähern. Das war alles extrem streng. Jedes Mal, wenn wir vor dem Büro standen dachten wir: Aber wie kann das sein? Wie kann das sein? Warum nur deren Leben? Warum werden die mit Abstandsregeln geschützt und wir nicht? Wir durften uns nicht nähern, alles war abgeriegelt und wir mussten gleichzeitig auf einem Haufen aufeinander hocken. Was ist das? Bedeutet unser Leben nichts? Haben wir nicht das Recht auf den Schutz durch Hygienemaßnahmen und auf das Leben?
Gab es Menschen in der Unterkunft, die positiv auf Corona getestet wurden?
Ja. Eines Tages kam mein Sohn sehr aufgeregt zu mir und sagte: »Mama, da haben sich viele Menschen vor dem Büro angesammelt und schreien: Gesundheit, Corona, Corona-Fall. Und sind aufgewühlt und stehen da herum.« Ich habe gesagt: »Bist du dir sicher ?« »Ja, Mama. Ich bin mir sicher.« Ich habe mich erschrocken und habe mich auf den Weg gemacht und wollte mir das alles angucken. Da waren tatsächlich acht Menschen und haben an der Tür geklopft und geschrien, aber keiner hat aufgemacht oder irgendetwas gesagt. Das war sozusagen eine Form von Protest. Letztlich habe ich sehr, sehr viel recherchiert, um zu herauszufinden, was da los war. Dann hieß es, in der dritten Etage ist eine komplette Familie an Corona erkrankt. Die Leitung und die Mitarbeiter wollten das alles verheimlichen, um eine Panik zu vermeiden. Und niemand hat auf irgendeine Art und Weise darauf reagiert.
Am nächsten Tag haben wir uns wieder vor dem Büro versammelt und da war die Aussage von dem Camp-Leiter: »Ja, ein paar Menschen sind mit dem Corona-Virus infiziert, aber ihnen geht es gut, sie haben kein Fieber, sie husten nicht. Keine Sorge!« Diese Information war irreführend, wir wissen alle, dass jemand, der positiv getestet ist, auch Überträger sein kann. Die Person muss in Quarantäne, es müssen Maßnahmen getroffen werden. Das heißt, er hat uns einfach angelogen. Er hat nicht die Wahrheit gesagt, um all das zu vermeiden, aber um uns auch ein bisschen durcheinander zu bringen. Obwohl wir alle wissen: Jeder Körper reagiert individuell auf Corona. Während die Erkrankten nicht isoliert wurden versuchte er, das Problem herunterzuspielen. Am Ende wurde dann gesagt: »Die Familie befindet sich in der Quarantäne.« Wir fragten: »Was ist das für eine Quarantäne?« Die müssen ja baden und auch zur Toilette. Die müssen sich auch irgendwie sich mit Essen versorgen. Es ist ja nicht so, dass das jemand für sie übernimmt. Und das ist dann doch keine Quarantäne, wenn sie die Gemeinschaftsräume weiterhin nutzen.
Was haben Sie daraufhin gemacht?
Wir haben auf dem Jungfernstieg demonstriert und protestiert. Leider ist es aber so, dass viele Migrantinnen und Migranten sich nicht trauen, ihre Stimme zu erheben und sich öffentlich zu äußern und zu beschweren. Das ist mit Ängsten verbunden. Trotzdem sind da glücklicherweise Personen erschienen, es waren fünfundzwanzig Teilnehmer erlaubt. Wir haben die Plakate hier auf dem Hof vorbereitet. Als wir im Hof waren, mein Mann, mein Sohn und ich, und die Plakate vorbereitet haben, standen plötzlich drei Polizeibeamte vor uns. Es stellte sich heraus, dass der Hausmeister die Polizisten alarmiert hat, dass wir hier im Camp Unruhe stiften wollen. Dass wir die Plakate mit dem Ziel vorbereiten, Unruhe zu stiften. Die Polizei hat dann mit entsprechenden Behörden Kontakt aufgenommen und herausgefunden, dass es alles erlaubt ist, dass wir eine Genehmigung haben. Sie haben sich dann entschuldigt und den Hof verlassen.
Welche Folgen hatte der Polizeieinsatz für Sie?
Dadurch wurde Angst verbreitet. In dem Moment war das für viele, die um uns herumstanden, eine sehr stressige und angstbesetzte Situation. Plötzlich sind alle verschwunden und niemand war mehr um uns herum. Unser Sohn war sehr gestresst und hatte massive Ängste. Polizeibeamte sind für viele sehr Furcht einflößend. Viele würden sich auch nie wieder trauen, irgendetwas dagegen zu unternehmen. Wissen Sie, die Menschen, die geflohen sind, kommen zum größten Teil aus Ländern, wo das Militär herrschte, wo Sicherheitsdienste sehr viel Macht haben, wo es keinerlei Meinungsfreiheit gibt. Das heißt, die Menschen sind sowieso schon vorgeprägt und vortraumatisiert. Ihnen ist nicht klar, dass man hier auch die Stimme heben kann, wenn etwas nicht passt, denn wir sind nicht in diesen Kriegsländern. Im Camp wird diese Situation ausgenutzt, denn die wissen ganz genau, wie viel Angst die Leute vor Sicherheitsdiensten haben. Die Betreiber der Unterkunft wissen, wie vorbelastet die Bewohner sind und das ist unfair. Wir dürfen doch auch friedlich und ruhig unsere Meinung und unsere Bedürfnisse äußern. Es geht nicht darum, zu randalieren oder für Unruhe zu sorgen.
Hat Ihr Protest etwas verändert?
Nachdem wir uns vor dem Büro beschwert haben, dass die Familie nicht ordnungsgemäß versorgt ist und auch wir nicht ordnungsgemäß versorgt sind, wurde die komplette Familie am nächsten Tag mit dem Krankenwagen abgeholt. Polizeibeamte waren da. Das bedeutet, es hat etwas gebracht, dass wir uns Gehör verschafft haben. Sonst hat sich wenig geändert. Wir haben dafür plädiert, dass Desinfektionsmittel, irgendwelche Hygienesprays oder auch Masken zur Verfügung gestellt werden, weil viele Leute zu wenig Geld haben, um sich Masken oder Sprays oder Desinfektionsmittel zu kaufen. Ich persönlich verzichte auf Essen und Bekleidung, um mich damit zu versorgen. Wir haben daher gefragt, ob es möglich wäre, das zur Verfügung zu stellen. Das ist aber nicht geschehen.
Im Zusammenleben in der Unterkunft nutzt es wenig, wenn man individuell darauf achtet, sich zu schützen, wenn vielen gleichzeitig die Möglichkeit fehlt es ebenfalls zu tun. Die Mehrheit kann das sich eigentlich nicht schützen. In den Ferien waren etwa die Kinder permanent in den Fluren und haben auch da gespielt. Zehn, fünfzehn Kinder, aber die hatten auch keine anderen Möglichkeiten.
Das heißt, die Situation in der Unterkunft trotz der Proteste gleichgeblieben?
Das Einzige, was sich zum Glück jetzt verändert hat ist, dass auf jedem Flur – ich vermute, das ist auf jedem Flur – nur noch drei bis vier Familien statt vorher sechs Familien ein Bad und ein WC teilen müssen. Wir konnten jemanden bestimmen, der permanent mit dem Büro oder mit dem Management in Kontakt ist, dass diese Vereinbarung eingehalten wird. Mein Mann hat sich darum gekümmert und mit dem Hausmeister immer wieder die Absprache gehalten. Aber trotz dieser Verbesserungen, das möchte ich Ihnen ganz klar sagen, ist das alles nicht in Ordnung. Das entspricht in keiner Art und Weise den notwendigen Hygienemaßnahmen während der Corona-Zeit und ist weit von dem entfernt, was das Gesundheitsamt eigentlich empfiehlt. So eine Situation soll auch dazu dienen, dass viele auch freiwillig in die Herkunftsländer zurückkehren. Das Leben soll unbequem gemacht werden. Aber wissen Sie, die Menschen, die wirklich in deren Heimatländer in Gefahr sind, die können unter keinen Umständen zurückkehren. Deshalb wäre es doch besser, ihnen hier ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.