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Ohne Klasse geht nix

Zwei Neuerscheinungen thematisieren, wie der Kapitalismus über die Abwertung von Arbeiter*innen und Armut, aber auch das Verschweigen von Klassenunterschieden reproduziert wird

Von Nelli Tügel

Arbeiter*innen kommen in öffentlichen Debatten kaum selbst zu Wort; Arbeiterkindern bleiben im Bildungssystem viele Wege verschlossen. Und auch linke Kreise sind oft vom akademischen Mittelstand dominiert. Foto: Pxhere

Vor etwas mehr als zehn Jahren kam ich zum ersten Mal mit Intersektionalitätstheorien in Kontakt: in einem Seminar an der Uni, es ging um Sprache und Diskriminierung, um Rassismus und Sexismus. Irgendwann stellte ich eine Frage: Was ist mit Klasse – spielt die keine Rolle? Die Dozentin reagierte unsicher, das Wort Klassizismus fiel. Sie versprach, sich kundig zu machen, und griff das Thema bei der nächsten Sitzung wieder auf. Da hörte ich zum ersten Mal von Klassismus

Interessant ist daran zweierlei: Die Dozentin war sicherlich auf dem Stand dessen, was damals an deutschen Unis in Sachen Intersektionalität Standard war – und ihr fiel spontan zum Thema Klasse nichts ein. Ich wiederum hatte mich zu diesem Zeitpunkt zwar schon viele Jahre – jenseits der Uni – mit Klassentheorien, Marxismus und Klassenkampf beschäftigt, doch das Wort Klassismus war mir dabei noch nie untergekommen.

Die Verwechslung mit der Kunstepoche Klassizismus scheinen andere ebenfalls erlebt zu haben, zumindest kommt das als Andeutung in der Einleitung des kürzlich bei Unrast erschienenen Sammelbandes »Solidarisch gegen Klassismus« vor, herausgegeben von Francis Seeck und Brigitte Theißl. Das Buch ist nicht die einzige Neuerscheinung zu Klasse. Im Nachbarland Österreich ist gerade das Bändchen »Klassenreise« herausgekommen, in dem elf Menschen von Betina Aumair und ebenfalls Brigitte Theißl porträtiert werden, die wie die Autor*innen selbst aus der »Arbeiter*innen- oder Armutsklasse kommen« und sich von ihrem Herkunftsmilieu entfernt, eine Klassenreise gemacht haben, die aber nicht (wie so oft) als Aufstieg, den jede*r schaffen könne, romantisiert, sondern kritisch hinterfragt wird.

Quellen der Neuthematisierung

Beide Bücher sind lesenswert – und Teil einer publizistischen wie aktivistischen Entwicklung, in der Klasse (wieder) ein Ding ist. (1) Um die Bedeutung dieser Entwicklung zu verstehen, muss man zunächst zurückschauen: Nach der Wende verschwand Klasse in der Bundesrepublik quasi völlig aus dem öffentlichen Reden und damit Bewusstsein. Begonnen hatte dieses Verdrängen schon zuvor, in den 1970er und 1980er Jahren, als mediale und wissenschaftliche Begleitung des sogenannten Strukturwandels. Das Ende des Ostblocks gab der Entwicklung einen kräftigen Schub: Ein ungeheurer ideologischer Erfolg der Herrschenden und Besitzenden, der half, ihre Stellung im Ausbeutungsprozess zu verschleiern und kollektive Identitätsbildungen der Ausgebeuteten (als Klasse) zu verhindern.

Die Klassengesellschaft sei überwunden, hieß es. Jene, die selbst der Arbeiterklasse angehörten oder ihr entstammten, waren zwar keineswegs still – erinnert sei etwa an die Anti-Hartz-IV-Bewegung 2004 oder Selbstorganisierungen wie die Prololesben, die in dem Sammelband »Solidarisch gegen Klassismus« von Tanja Abou vorgestellt werden –, doch blieben sie oft ungehört. Ein Teil der deutschen Linken bemühte sich in diesen Jahren um eine erneuerte Klassenanalyse, kam damit aber kaum durch, ein anderer Teil hielt Klassen irgendwann ebenfalls für etwas »von gestern«.

Seit ein paar Jahren nun sind sie »zurück« in der Öffentlichkeit. Inzwischen erscheinen Bücher, die Armut oder Klasse im Titel tragen (2), auch in renommierten Häusern. Besonders autofiktionale Geschichten von weißen Männern scheinen dort gefragt zu sein. (3) Die Figur des in akademische Kreise aufgestiegenen Arbeiterkindes hat inzwischen schon fast einen festen Platz im kulturellen und auch politischen Diskurs, und zwar als Kronzeuge für eine versagende Linke und/ oder Sozialdemokratie. Arbeiter*innen oder Erwerbslosen gibt das allerdings noch keine Stimme. »Erst dann, wenn sie gesellschaftlich als Aufsteiger*innen gelten, wird es vielen möglich, über ihre Klassenherkunft zu sprechen. Und erst dann werden sie gehört«, heißt es in »Klassenreise«.

Die zweite Quelle, aus der das Reden über Klasse nach Deutschland kommt, ist jene eingangs schon angetippte Klassismus-Theorie. Die Verwendung des Begriffs geht auf den Anfang des 20. Jahrhunderts zurück, in den 1970ern wurde er in den USA (wieder)entdeckt und kam dort seitdem in Debatten und Praxen vermehrt zum Einsatz. In Deutschland begann die Debatte um Klassismus vor etwa zehn Jahren mit ersten Aufschlägen in kleinen, linken Verlagen und einer kurzen Kontroverse in linken Zeitschriften.

Der Sammelband »Solidarisch gegen Klassismus« ist wie eine Schaltstelle zwischen diesen Ursprüngen der neuen Auseinandersetzungen um Klasse: Die Beschäftigung mit der eigenen Herkunft kommt zusammen mit Klassismus-Theorie – ergänzt um Praxiserfahrungen. Explizit geht es den Herausgeber*innen nämlich nicht darum, »eine akademische Debatte um den korrekten Klassismus-Begriff anzustoßen«, sondern um eine Verbindung zur Praxis. So gibt es Beiträge von Aktivist*innen der Berliner Erwerbsloseninitiative BASTA!, der Solidarischen Aktion Neukölln, aber auch des SoFiKuS-Referats (4) an der Uni Münster. Zu Wort kommen in dem Buch generell Menschen, die wissen, wovon sie reden, wenn es um Armut, Jobcenter-Schikane und Ausbeutung geht.

Teile der Linken begegnen indes jeder Verwendung des Klassismus-Begriffs mit Misstrauen – oft in Kombination mit einer aus marxistischer Schulung resultierenden Ablehnung intersektionaler Ansätze. Die Sorge ist, dass Anti-Klassismus sich auf Benachteiligung fokussiere und übersehe, dass es kein diskriminierungsfreies, friedvolles Nebeneinanderexistieren von Arbeiter*innen und Kapitalbesitzenden geben kann, da letztere nur durch die Ausbeutung ersterer überhaupt existieren.

Linke Türstehermentalität

Jedoch verkennt diese Kritik, dass unter jenen, die von Klassismus reden, Anti-Kapitalismus durchaus weit verbreitet ist. Im Vorwort von »Solidarisch gegen Klassismus« kritisieren die Herausgeber*innen ausdrücklich, dass im »Bereich der Antidiskriminierungsarbeit Zugänge (dominieren), die Klassismus als Diversity-Kategorie verstehen und kaum strukturelle Fragen in den Blick nehmen«. Ein solches Verständnis von Klassismus stehe einer emanzipatorischen Politik entgegen. In dem sehr lesenswerten Gespräch mit der Rentnerin Jutta Werth erklärt diese: »Der überwiegende Teil der Bevölkerung gehört zur lohnabhängigen Klasse, die die Werte der Gesellschaft erarbeitet. Aber den Mehrwert, die Profite, streichen die Unternehmen und Konzerne ein.«

Im Vorwort von »Solidarisch gegen Klassismus« kritisieren die Herausgeber*innen, dass im »Bereich der Antidiskriminierungsarbeit Zugänge (dominieren), die Klassismus als Diversity-Kategorie verstehen und kaum strukturelle Fragen in den Blick nehmen«.

In dem Sammelband wird allerdings auch klar, dass man sich nicht in Kapital-Lesekreisen auf ein Ende des Kapitalismus vertrösten lassen wird, sondern Verbesserungen jetzt und hier erreichen will, etwa indem Arbeiterkinder sich im undurchlässigen, ihnen feindlich gesinnten deutschen Bildungssystem selbstorganisieren. Ein Ansatz, der allen Marxist*innen eigentlich sympathisch sein müsste. Einige Reaktionen aus der eher traditionellen Linken aber sind reflexhaft und haben zuweilen etwas von Türstehermentalität, nach dem Motto: »Wennʼs um die Klassengesellschaft geht, haben nur ausgebildete Marxist*innen oder solche, die beteuern, es werden zu wollen, Zutritt!« Zwar denke auch ich, dass die Marxsche Analyse des Kapitalismus unschlagbar ist – doch zur Ausbildung von Klassenbewusstsein oder gar zu Erfolgen im Kampf haben auch Marxist*innen hierzulande in den vergangenen drei Jahrzehnten leider eher wenig beigesteuert.

Zudem kann der Klassismus-Begriff helfen, gegenwärtige Begründungen etwa für das Hartz-IV-Armuts-Regime präziser zu erfassen. Klassismus-Analysen interessierten sich unter anderem dafür, wie genau Ausbeutung und Ausgrenzung legitimiert werden, heißt es in der Einleitung von »Klassenreise«. Das ist wichtig: Denn mit der De-Industrialisierung (z.B. im Ruhrgebiet oder der ehemaligen DDR), dem Anstieg der Erwerbslosigkeit und der Vereinzelung der Klasse hielt in den vergangenen Jahrzehnten auch eine neue (zum Teil auch alte, nur neu aufgelegte) Ausprägung der Abwertung in den öffentlichen Diskurs Einzug. Die Zusammensetzung der Arbeiterklasse änderte sich mit dem Strukturwandel zwar (5), ihre Existenz aber blieb – im öffentlichen Diskurs jedoch in veränderter Erscheinung, als »Unterschicht«, »dumme Prolls« oder »faule Arbeitslose«, bei – wie gesagt – gleichzeitiger Leugnung der Klassengesellschaft.

Es wäre viel gewonnen, wenn die Analyse und Kritik dieses Chauvinismus der dominanten Klassen zur Stärkung von Klassenbewusstsein unter Arbeiter*innen und Erwerbslosen beitragen könnte. Denn dies ist die andere Seite der beschriebenen De-Thematisierung der Arbeiterklasse und ihrer Neu-Konstruktion als »Unterschicht«: Die wenigsten bezeichnen sich noch selbst als Arbeiter*in – egal wie prekär die eigene Lage auch ist, viele ordnen sich als »Mitte« ein, um sich zumindest so vom stereotypen Zerrbild des »Prolls« abgrenzen zu können.

Auf den Punkt bringt das Arslan Tschulanov, der in »Solidarisch gegen Klassismus« schreibt: »Ich hätte damals nie von mir gesagt, ich sei Migrant und aus der Arbeiter*innenklasse. Ich wollte (…) mich von meiner in Armut, Selbstzerstörung und Arbeiter*innenklassenkultur gefangenen Familie und meinem alten Freundeskreis abgrenzen.« In Tschulanovs Beitrag »Die geballte Faust aus der Tasche holen« (6) spielt das Problem einer akademischen Mittelstandslinken eine große Rolle: »Wie (…) erfolgreich kann sie Arbeiter*innenklasse, Arbeits- und Wohnungslose, entrechtete und diskriminierte Minderheiten vertreten, wenn diejenigen, die sie vertreten und für sie kämpfen, aus weißen deutschen, meist männlichen Akademiker*innen bestehen?«

Auch wenn der Klassismus-Diskurs selbst oft verdächtigt wird, akademisch zu sein – der Sammelband, der ihn im Titel trägt, ist es nicht. Er ist im Gegenteil überaus zugänglich: Die Sätze sind meist kurz und geradeaus, auf verschwurbelte Sprache oder Angeber-Fachwörter wird verzichtet – nicht aber auf das angeblich so elitäre Gendersternchen und andere Mittel einer für Diskriminierung sensiblen Sprache. Apropos »Gendersternchen«: Die Autor*innen des Sammelbandes müssen nicht immerzu betonen, dass Identitätspolitik (im Sinne von: Anti-Rassismus oder Anti-Sexismus) und Klassenpolitik nicht gegeneinander ausgespielt werden sollen – sie tunʼs einfach nicht. Wie angenehm!

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.

Francis Seeck, Brigitte Theißl (Hg.): Solidarisch gegen Klassismus – organisieren, intervenieren, umverteilen. Unrast Verlag, Münster 2020. 280 Seiten, 16 EUR.

Betina Aumair, Brigitte Theißl (Hg.): Klassenreise – Wie die soziale Herkunft unser Leben prägt. ÖGB-Verlag, Wien 2020. 200 Seiten, 19,90 EUR.

Anmerkungen:
1) Erst kürzlich erschienen ist auch das autobiografisch grundierte Landessay »Die Elenden« von Anna Mayr, in dem sie die Funktion der Aufrechterhaltung und zugleich Verächtlichmachung von Erwerbslosigkeit und Armut erklärt und kritisiert.
2) So »Armutsafari« von Darren McGarvey oder »Ein Mann seiner Klasse« von Christian Baron.
3) Seit Didier Eribons »Rückkehr nach Reims«, Jahre nachdem es in Frankreich erschienen und dort weitgehend ignoriert worden war, 2016 in der deutschen Übersetzung zum Überraschungshit avancierte. Ein paar Jahre zuvor noch war »Prolls« von Owen Jones ein Geheimtipp geblieben.
4) SoFiKuS steht für Sozial Finanziell Kulturell benachteiligte Studierende.
5) Mehr Dienstleistungs- weniger Industrieproletariat; global allerdings ist zweiteres so groß wie noch nie in der Menschheitsgeschichte.
6) Angelehnt an das Buch »Mit geballter Faust in der Tasche«, herausgegebenen von Gabriel Kuhn, das 2009 die Thematisierung von Klassismus in linken Kreisen aus Schweden nach Deutschland brachte.