»Die Führung muss rotieren«
In Bolivien ist die linke MAS zurück an der Macht – die Indígenas sind das jedoch noch nicht, sagt die Aktivistin Francisca Alvarado Mamani
Interview: Andreas Hetzer
Seit über 30 Jahren kämpft Francisca Alvarado Mamani für die Rechte indigener Frauen und Bäuerinnen. Sie ist Teil der Basisorganisationen, die der Bewegung zum Sozialismus (MAS) vor 15 Jahren maßgeblich zur Regierungsmacht verholfen haben. Wegen ihrer ehemaligen Beziehung zu Ex-Präsident Evo Morales ist sie im vergangenen Jahr politisch verfolgt worden. Sie spricht im Interview über die neue bolivianische Regierung, ihren politischen Aktivismus und ihren Umgang mit der politischen Repression.
Der neu gewählte Vizepräsident David Choquehuanca hat angekündigt, dass es eine Erneuerung im Kabinett geben muss und das alte Regierungsumfeld von Evo Morales keine Rolle mehr spielen wird. Was meinst du dazu?
Francisca Alvarado Mamani: Wir respektieren Evo, aber wir wollen nicht, dass sein politisches Umfeld aus der vergangenen Regierung zurückkehrt. Deswegen ist es jetzt Zeit für eine neue Generation. Es war ein Fehler, keinen neuen Kandidaten zu präsentieren, denn Führungskader müssen rotieren. Evo hat das nach den fehlgeschlagenen Wahlen 2019 selbst eingestanden. Diese Selbstkritik ist notwendig, damit wir einen besseren Weg einschlagen. In der MAS hat sich eine Elite herausgebildet, die auf uns Indígenas herabschaut und uns diskriminiert. Insofern ist es ein Irrglaube, dass wir Indígenas an der Macht waren. Das war nie der Fall, und genau das wollen wir jetzt ändern. Wir haben genug Leute in den eigenen Reihen der indigenen Bewegung, die Regierungsverantwortung übernehmen können. Die Leute haben einmal mehr ihr Vertrauen in die MAS gesetzt, das darf nicht enttäuscht werden.
Welche Hoffnungen verbindest du mit Choquehuanca, der innerhalb der MAS ja eher den indigenistischen Flügel stark macht?
Am logischsten wäre es gewesen, einen Indígena als Präsidenten aufzustellen. Aber im Angesicht der extremen Polarisierung im Land, haben wir uns dazu entschieden, einen Vertreter aus der Mittelschicht als Präsidentschaftskandidaten aufzustellen. Damit kann uns niemand den Vorwurf machen, dass die Indígenas allein die Macht im Staat übernehmen. Ich glaube auch nicht, dass wir Indígenas mit Luis Arce an Einfluss einbüßen. Arce ist ein standfester Genosse, der der Sache verpflichtet ist. Ich habe ihn zu einigen Orten seiner Wahlkampagne begleitet und konnte mich davon überzeugen, dass er ein sehr solidarischer, zugänglicher Mensch ist. Ich glaube, dass er die Linie der Regierung von Morales weiterverfolgen wird, vielleicht aber mit einer stärkeren Repräsentation der Indígenas im Kabinett.
Du warst immer Teil von indigen-bäuerlichen Basisorganisationen, die die Bewegung zum Sozialismus mitbegründet haben. Seit wann bist du politisch aktiv?
Mein politischer Aktivismus beginnt Ende der 1980er Jahre. Da war ich ungefähr 13 Jahre alt. Ich bin quasi in der Zeit groß geworden, als der Kampf für die Rechte der indigenen Völker sich zu organisieren begann. Ich habe schon als Jugendliche an den Treffen meiner Gemeinde teilgenommen. Es war damals für mich als Frau sehr schwierig, vor allem auch, weil ich sehr jung war. Denn in ländlichen Regionen existiert ein ausgeprägter Machismo. In meinen Jugendjahren war es vor allem die Gewerkschaftsbewegung, die auf dem Land präsent war. Sie trat für soziale Rechte der Landarbeiter*innen ein. Die eigenen originären Strukturen der indigenen Völker waren dabei zu verschwinden. Dieser Prozess verstärkte sich zusätzlich mit der gewerkschaftlichen Organisierung, die einer anderen Tradition folgte. Stück für Stück übernahm ich in der Gewerkschaftsföderation der Landarbeiter Oruros (FSUTCO) eine Führungsrolle, zuerst für meine Provinz, später dann auf regionaler Ebene.
Wie ging deine politische Laufbahn weiter?
Über meine Arbeit für die FSUTCO auf regionaler Ebene habe ich an nationalen Kongressen teilgenommen. Dort lernte ich Aktivisten der Gewerkschaftsbewegung und dem Zusammenschluss indigener Landarbeiterfrauen, Bartolina Sisa, kennen. Nun war ich längst nicht mehr die einzige Frau, sondern es gab andere, die Führungspositionen übernahmen. 1996 wurde ich zur Generalsekretärin der FSUTCO in Oruro gewählt. Vorher war das eine reine Männerorganisation, aber immer mehr meiner Gefährtinnen mischten sich politisch ein, und die Männer mussten die Leitung mit den Bartolinas teilen. Anfangs glaubten wir, dass wir das Patriarchat über die Teilnahme in den Organisationen brechen könnten. Später aber, 2007, haben sich die Bartolinas abgespalten und eine eigene Konföderation auf Augenhöhe gegründet.
Inwieweit haben indigene Denkweisen auf deine politische Ideologie eingewirkt?
Ich bin in der traditionellen Linken in Bolivien sozialisiert worden. Ich ordne mich aber nicht der marxistisch-leninistischen Strömung zu, sondern sehe mich als Teil der Pachakuti-Bewegung, mit einem starken Sinn für die Gemeinschaft. So haben wir 1993 mit der Eje Pachakuti Hugo Cárdenas als eigenen indigenen Präsidentschaftskandidaten zu den Wahlen aufgestellt. Am Wahlabend hat sich Cárdenas dann plötzlich als Vizepräsident von Gonzalo Sánchez de Lozada proklamiert. Damit hatten wir einen Verräter mehr in unseren Reihen. Also suchten wir nach einem neuen Kandidaten. Das war dann Félix Cárdenas, der später in der Regierung von Evo Morales Vizeminister für Dekolonialisierung war.
Bist du später in die MAS eingetreten?
Nein, ich spielte weiterhin eine wichtige Rolle in der FSUTCO in Oruro und brachte mich über die Basisorganisation ein. Ich kümmerte mich eher darum, die indigenen Autoritäten zu stärken. Ende der 1990er stieg ich dann aus der Gewerkschaft aus. Ich arbeitete daraufhin in einem Projekt zur Ausbildung von Führungskräften und kümmerte mich besonders um die Ausbildung von Frauen, denn es wurde ein neues Gesetz verabschiedet, dass in Stadtparlamenten mindestens 30 Prozent Frauen vertreten sein müssten. Später wurde diese Quote gar auf 50 Prozent erhöht. Ziel war es, dass sich Frauen die politischen Räume aneigneten. Seit 2016 arbeite ich eng mit der CONAMAQ (Consejo Nacional de Ayllus y Markas del Qullasuyu) zusammen. Das ist eine Organisation der indigenen Hochlandvölker aus dem andinen Raum, die an traditionelle Organisationsstrukturen anknüpft. Sie ist Teil des Einheitspaktes, also eine der fünf Basisorganisationen, die die Regierung der MAS begleitet und unterstützt haben. Ich habe den Prozess des Wandels ab 2006 von der Basis aus unterstützt, aber nie ein politisches Amt in der Regierung bekleidet.
Es darf keine Frauen erster und zweiter Klasse geben.
Francisca Alvarado Mamani
Du giltst als Ideengeberin des Bono Juana Azurduy. Kannst du mir erzählen, um was es sich dabei handelt?
Mit meinen Compañeras habe ich den Gesetzesvorschlag zur staatlichen Unterstützung für Mütter während und nach der Schwangerschaft erarbeitet, den Bono Juana Azurduy. Die staatliche Unterstützung umfasst medizinische Untersuchungen ab dem fünften Monat, um die Kinder- und Muttersterblichkeit zu senken. Darüber hinaus erhalten die Frauen Lebensmittelpakete und eine finanzielle Hilfe in den ersten zwei Jahren nach der Geburt des Kindes. Aus meiner eigenen Erfahrung als Mutter empfand ich es ungerecht, dass lediglich staatliche Funktionäre während der Schwangerschaft Unterstützung bekamen. Es darf keine Frauen erster und zweiter Klasse geben. 2009 wurde das Gesetz schließlich verabschiedet. Der Erfolg gibt uns Recht. Die Kindersterblichkeit ist in Bolivien deutlich gesunken.
Die MAS-Regierung war seit 2005 14 Jahre in Folge an der Macht, mit deutlichen politischen Mehrheiten im Parlament. Wie ist der Sturz der MAS-Regierung im vergangenen Jahr zu erklären?
Wir hatten nach 14 Jahren an der Regierung angenommen, dass der Prozess des Wandels ausreichend konsolidiert ist. Es ging nie nur darum, das Land zu regieren, sondern die indigene Bewegung zu stärken und neue Führungskräfte auszubilden. Heute ist es ein Faktum, dass Menschen indigener Herkunft, Quechua- und Aymara sprechende Indígenas in den Parlamenten und Ministerien vertreten sind. Die Mittel- und Oberschicht fühlten sich von den Fleischtöpfen der Macht vertrieben, wo sie doch zuvor die Nachfolge politischer Ämter nur unter ihren Eliten aufgeteilt hatten. Sie haben es nie akzeptiert, dass sie nicht die gesellschaftliche Mehrheit stellen. Die Rechte hat nie geschlafen, sondern den Putsch im letzten Jahr lange im Vorfeld der Wahlen vorbereitet. Auf die Brutalität des Putsches waren wir nicht gefasst. Sie haben uns aus politischen Ämtern vertrieben, uns ins Gefängnis gesteckt, gefoltert, Familien zerstört. Sie kannten kein Erbarmen, nicht die leiseste Spur von Mitgefühl. Viele internationale Organisationen haben mittlerweile nachgewiesen, dass es keinen Wahlbetrug gab.
Bist du im letzten Jahr nach dem Putsch als ehemalige Weggefährtin von Evo Morales politisch verfolgt worden?
Evo ist der Vater meiner Tochter Evaliz, die 1994 geboren wurde. Ich habe deswegen nie Privilegien genossen. Im Gegenteil, genau das haben wir als soziale Bewegung immer kritisiert. Ich selbst hatte nie einen Posten in der öffentlichen Verwaltung. Wenn mein Compañero ein politisches Amt übernimmt, dann muss ich akzeptieren, mir woanders eine Beschäftigung zu suchen. Das habe ich immer klar auseinandergehalten. Es fällt mir schwer, über die Geschehnisse im letzten Jahr zu berichten. Das ist für mich persönlich sehr schmerzhaft. Ich habe es bis jetzt nicht übers Herz gebracht, öffentlich darüber zu sprechen. Es ist einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt. Der Hass war so groß, dass uns alles nur Denkbare hätte passieren können. In dieser Zeit habe ich mich vollkommen machtlos gefühlt. Ich bin nur ein paar Monate zu meinem eigenen Schutz ausgereist, bin dann aber zurückgekehrt und war die ganzen Monate der De-facto-Regierung in Bolivien. Ich war mit meinem 15-jährigen Sohn zusammen. Das Schwierigste war für mich, dass weder mein Mann noch meine Tochter an meiner Seite waren. Die Ungewissheit war unerträglich. Ich habe die ganze Zeit in Angst und Schrecken gelebt. Dank der Pachamama hat das Volk, dass mit so viel Hass, Rassismus und Diskriminierung überzogen wurde, mit den Wahlen die richtige Antwort gegeben. Die Opposition will nicht akzeptieren, dass die Hälfte des bolivianischen Volkes Indígenas sind. Aber früher oder später werden sie sich damit abfinden müssen.