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»Wenn sich eine Krankheit ausbreitet, sind wir verloren«

Wie Bewohner*innen des Flüchtlingslagers Moria versuchen, sich vor dem Coronavirus zu schützen

Interview: Jan Ole Arps

Sechs Männer stehen vor einigen Plakaten, die an einem Telt hängen
Mitglieder des Moria Corona Awareness Teams hängen Plakate auf, um über die Infektionsgefahr zu informieren. Foto: Mohanad Al-Mandeel / Moria Corona Awareness Team

Seit auf der Insel Lesbos die ersten Corona-Fälle gemeldet wurden, geht im Flüchtlingslager Moria die Angst um. Mehr als 20.000 Menschen leben dort auf engstem Raum, der Zugang zu sanitären Anlagen oder überhaupt zu Wasser ist katastrophal, eine medizinische Versorgung existiert quasi nicht, der Müll bleibt liegen. Immer wieder sterben Bewohner*innen an den Bedingungen im Lager, zuletzt Mitte März ein sechsjähriges Mädchen bei einem Brand. Sollte es zu einem Corona-Ausbruch kommen, droht eine Katastrophe. Schutzmaßnahmen gibt es keine, die meisten NGOs haben den Hotspot verlassen. »Wir können nur noch auf uns selbst vertrauen und versuchen, uns selbst zu helfen«, sagt Read AlObeed. Deshalb haben er und andere Bewohner*innen Mitte März das Moria Corona Awareness Team gegründet. Sie betreiben, so gut es geht, gesundheitliche Aufklärung und fordern die sofortige Evakuierung des Lagers.

Du bist im Moria Corona Awareness Team aktiv. Wie sah euer Tag heute* in Moria aus?

Read AlObeed: Seit gestern sammeln wir Müll im Camp, vor allem im Zeltlager außerhalb des eigentlichen Lagergeländes, und versuchen, ihn wegzuschaffen. Das ist dringend nötig, weil dort seit mehr als 20 Tagen der Müll nicht mehr abgeholt wird. Er liegt überall herum, und jetzt, wo es wärmer wird, beginnt es überall zu stinken. Das ist für alle hier eine große Belastung. Wir haben Plastiktüten und Masken und Handschuhe organisiert und an Freiwillige verteilt, alles Flüchtlinge, nun arbeiten wir daran, das Müllproblem in den Griff zu bekommen.

Müll im Außenbereich des Lagers Moria. Foto: Mohanad Al-Mandeel / Moria Corona Awareness Team

In Moria leben mehr als 20.000 Menschen-

Mehr sogar, 24.000. 20.000 sind allein aus Afghanistan, es leben aber auch etwa 3.000 Araber in Moria, vor allem aus Syrien oder dem Irak, sowie etwa 1.000 Menschen aus Afrika: Kongo, Kamerun, Nigeria, Somalia, Eritrea.

Auf Lesbos wurde am Dienstag der dritte Corona-Fall gemeldet. Was bedeutet das für die Situation in Moria?

Das macht uns große Sorge. Ein Ausbruch im Camp wäre eine Katastrophe. Wir sagen deshalb allen Leuten, dass sie im Camp bleiben sollen. Die Insel ist jetzt Corona-Risikogebiet, wir müssen uns schützen, so gut wir können. Moria selbst ist bisher noch nicht betroffen, Gott sei Dank.

Read AlObeed

46, arbeitete vor dem Krieg in Syrien als Berater für Arbeits-, Umwelt- und Gesundheitsschutz und Qualitätskontrolle für Ölförderunternehmen. Nach dem Beginn der Revolution 2011 und während des Bürgerkriegs engagierte er sich, so erzählt er, in lokalen Hilfsstrukturen in Syrien. Anfang Dezember 2019 kam er als Flüchtling nach Lesbos. Nun ist er im Moria Corona Awareness Team aktiv.

Wie geht ihr mit der Bedrohung um?

Wir, also das Moria Corona Awareness Team, haben Plakate im Camp aufgehängt, auf denen wir darüber informieren, was Covid-19 ist, wie sich das Virus verbreitet, und wie man das Infektionsrisiko mit einfachen Mitteln reduzieren kann. Wir sagen allen, dass sie äußerst vorsichtig sein müssen, so viel es geht in den Zelten bleiben und das Lager nur in Notfällen verlassen sollen. Wir versuchen auch, eine Wasserversorgung außerhalb des Lagergeländes herzustellen. Denn dort gibt es überhaupt keine Wasserleitungen.

Wie viele Menschen betrifft das?

Die übergroße Mehrheit lebt in Zelten, im sogenannten Dschungel. Dort gibt es keine Waschmöglichkeiten, keine Duschen, kein Wasser, keinen Strom. Das alles gibt es nur im Lager, das aber nur Platz für wenige Tausend Menschen hat.

Das fehlende Wasser ist ein Riesenproblem, besonders angesichts der Bedrohung durch Covid-19. Die Leute sind angespannt, die Situation ist unkontrollierbar.

Read AlObeed

Für die Mehrheit gibt es keine Wasserversorgung?

Nein. Die Leute müssen jedes mal, wenn sie duschen oder Kleidung waschen wollen, von den Hügeln runter ins Camp gehen. Wir müssen auch dorthin, um Wasser zu holen. An den Duschen und Waschbecken im Lager muss man wegen des großen Andrangs warten, oft ein oder zwei Stunden. Das produziert Stress, es kommt zu Streit und Schlägereien. Genauso an der Essensausgabe, wo man ebenfalls in langen Schlangen warten muss. Die Leute sind extrem angespannt, die Situation ist unkontrollierbar. Die Polizei und das Militär versuchen, die Leute unter Kontrolle zu halten, und sogar wir vom Moria Corona Awareness Team versuchen, für Ordnung zu sorgen, damit die Menschen nicht um Essen kämpfen. Wir versuchen nun, Wasserleitungen im Außenbereich zu improvisieren, wenn möglich Wassertanks aufzustellen. Denn das fehlende Wasser ist ein Riesenproblem, besonders angesichts der Bedrohung durch Covid-19.

Auch die NGOs haben ihre Arbeit im Lager eingestellt?

Ja, wegen der neuen Regeln zur Epidemieeindämmung haben fast alle NGOs das Lager verlassen – außer Stand by me Lesvos, die mit uns zusammenarbeiten. Das heißt, wir bekommen momentan wirklich gar nichts, nicht einmal Seife. Uns fehlt es an allem.

Spenden für das Moria Corona Awareness Team

sind über die NGO Stand by me Lesvos möglich, die mit dem Awareness Team zusammenarbeitet. Mehr informationen dazu gibt es hier.
PIRAEUS BANK
Account No. 5709086466501
IBAN GR4201727090005709086466501
SWIFT-BIC PIRBGRAA

Was tun die Lagerverwaltung oder die griechischen Behörden, um die Menschen in Moria über das Corona-Risiko zu informieren und sie zu schützen?

Nichts. Wie gesagt, niemand tut etwas, wir sind komplett auf uns allein gestellt. Deshalb haben wir das Moria Corona Awareness Team gegründet. Wir versuchen, mit einfachsten Mitteln aufzuklären: Zuerst haben wir Hinweisschilder aus Pappkartons in Arabisch, Farsi, Englisch aufgehängt; seit gestern haben wir mehrsprachige Plakate, die wir von Stand by me Lesbos bekommen haben.

MCAT-Mitglieder beim Aufhängen der Plakate im Lager. Foto: Mohanad Al-Mandeel / Moria Corona Awareness Team

Aus wem besteht das Awareness Team?

Aus Flüchtlingen der verschiedenen Herkunftsregionen, Afghanen, Araber, auch andere. Wir gehen in kleinen Teams los, die Syrer, zu denen ich gehöre, als Moria White Helmets. Das bezieht sich auf die Weißhelme in Syrien, die dort noch immer unter schwersten Bedingungen im Krieg Erste Hilfe leisten. Viele Syrer, die hier sind, haben durch die schreckliche Situation in ihrer Heimat viel Erfahrung mit selbstorganisierter Hilfe. Jetzt leisten wir Hilfe im Lager und außerhalb. Bis zu den neuen Kontaktsperreregeln haben wir zum Beispiel auch vor dem Lidl Markt, wo Flüchtlinge, aber auch Griechen aus Lesbos einkaufen, darauf hingewirkt, dass die Leute Abstand halten und nicht zu viele gleichzeitig den Supermarkt betreten.

Wie reagieren die Menschen im Lager auf eure Aktivitäten und auf die Situation insgesamt?

Die Leute respektieren unsere Hinweise. Wir sind ja genau wie sie Flüchtlinge, wir müssen zusammen Lösungen für die Situation finden. Es gibt zum Beispiel eine Gruppe afghanischer Frauen, die mit ein paar gespendeten Nähmaschinen begonnen haben, Masken zu produzieren. Die verteilen wir an Leute, die sie besonders brauchen.

Read AlObeed bei der Aufräumaktion am 26. März. Foto: Mohanad Al-Mandeel / Moria Corona Awareness Team

Was muss jetzt geschehen, um die Menschen im Camp zu schützen? Was sind eure dringendsten Forderungen?

Wir brauchen hier wirklich alles, alle Dinge des täglichen Bedarfs. Wir brauchen Wasser, Waschgelegenheiten, wir haben wie gesagt ein riesiges Müllproblem. Das heißt, es werden sich Krankheiten ausbreiten, nicht nur Covid-19, auch andere. Die Situation ist unmenschlich und extrem gefährlich. Deshalb fordern wir die Evakuierung des Camps, vor allem der Älteren, die besonders gefährdet sind, und der unbegleiteten Kinder.

Wir brauchen einen sicheren Ort, an den wir gehen können. Sonst warten wir hier auf den Tod.

Read AlObeed

An wen richtet ihr die Forderung nach Evakuierung?

Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Wir sind von allen im Stich gelassen, sogar die NGOs haben das Lager verlassen. Wir können nur noch auf uns selbst vertrauen und versuchen, uns selbst zu helfen. Ganz dringend brauchen wir Mülltüten, Handschuhe und Wasser – jede erdenkliche Hilfe. Aber wir haben wenig Hoffnung. Ich kann nur für die syrischen Flüchtlinge sprechen: Wir warten hier darauf, wie wir sterben werden.
Im Grunde verlangen wir nur, dass sich Menschen dafür interessieren. Wir vermissen das Mitgefühl, Emotionen. Was hier geschieht ist unmenschlich. Wenn andere jetzt zu Hause bleiben: Wir können das nicht. Ich lebe in einem Zelt, neben Tausenden Menschen auf engstem Raum. Wenn sich eine Krankheit ausbreitet, sind wir verloren. Es gibt hier im Lager keine Ärzte mehr. Krankenwagen kommen nicht mehr ins Camp. Das Krankenhaus von Mitilini ist zehn Kilometer entfernt. Wenn wir zum Arzt wollen, sollen wir ein Taxi nehmen, heißt es, aber wo sollen wir nachts um zwölf ein Taxi herkriegen? Wenn das Coronavirus Moria erreicht, wird das Lager zu einem Friedhof werden. Moria ist kein sicherer Ort, es gibt auch keinen sicheren Ort, an den wir zurück könnten. In unserem Land herrscht Krieg und Gewalt, in der Türkei ist es nicht sicher. Wir haben alles verloren, unsere Familien, unsere Freunde, alles. Aber wir sind Menschen. In Moria leben mehr als 6.000 Kinder. Alte Leute. Wir brauchen einen sicheren Ort, an den wir gehen können. Sonst warten wir hier auf den Tod.

Jan Ole Arps

ist Redakteur bei ak.

* Das Interview wurde am Nachmittag des 26. März per Telefon geführt.