»Näher an den sozialen Bewegungen«
Die Bewegung zum Sozialismus gewinnt die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Bolivien deutlich
Von Andreas Hetzer
Gestern Abend, am 23. Oktober, hat Salvador Romero, Präsident des Obersten Wahlgerichts (TSE), die offiziellen Wahlergebnisse der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Bolivien bekanntgegeben. Bei einer historischen Wahlbeteiligung von 88,4 Prozent hat die Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo, MAS) mit 55,1 Prozent der Stimmen die Wahl im ersten Urnengang für sich entschieden und zieht mit Luis Arce und David Choquehuanca als Vize in den Präsidentschaftspalast ein. Der unmittelbare Konkurrent von der Allianz Bürgergemeinschaft (Comunidad Ciudadana, CC), Carlos Mesa, kam gerade mal auf 28,83 Prozent. Er hatte schon vor Tagen seine Niederlage eingestanden und die Führung der Opposition im Parlament für sich reklamiert. Der ultrarechte Luis Fernando Camacho von Wir Glauben (Creemos) aus Santa Cruz kommt gerade mal auf 14 Prozent der Stimmen.
Die MAS kehrt damit nach einer Unterbrechung von elf Monaten unter der ultrarechten De-facto-Regierung von Jeanine Áñez zurück an die Macht. Im vergangenen Oktober hatte der seit 14 Jahren regierende Evo Morales die Wahlen im ersten Wahlgang knapp für sich entschieden, jedoch sprach die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bereits am Wahlabend von Unregelmäßigkeiten und empfahl, die Wahl zu annullieren. Daraufhin kam es zu Massenmobilisierungen auf den Straßen mit heftigen Ausschreitungen. Wahlbehörden wurden in Brand gesteckt und Wahlunterlagen vernichtet. Es folgte ein dreiwöchiger Generalstreik. Nachdem sich Polizei und Militär gegen Morales gestellt hatten, trat dieser zurück und floh mit seinem Vize Álvaro García Linera nach Mexiko und später nach Argentinien.
Der angebliche Wahlbetrug der Regierung Morales konnte bis heute nicht nachgewiesen werden.
Ehemalige Regierungsmitglieder und Anhänger*innen der MAS sahen sich in den darauffolgenden Monaten juristischer Verfolgung und Drohungen ausgesetzt. Mehrere Personen flohen ins Exil. Die Basis der MAS, Bauern- und indigene Bewegungen, blieben zurück. Gegen sie richtete sich ein Rachefeldzug und die staatliche Repression, die in den Massakern von Senkata und Sacaba mit mehreren Toten gipfelten. Die Verbrechen sind mittlerweile von der Internationalen Menschenrechtskommission verurteilt worden. Diplomatische Folgen hatte das für die rechte Regierung nicht.
Der angebliche Wahlbetrug der Regierung Morales hingegen konnte bis heute nicht nachgewiesen werden. Ob von einem Putsch oder einem Volksaufstand die Rede ist, ist in Bolivien zur Glaubensfrage zwischen den zwei verfeindeten Lagern geworden. Fakt ist, dass Arce und Choquehuanca trotz einer Diffamierungskampagne gegen die MAS und zur Überraschung vieler Analyst*innen das Wahlergebnis von Ex-Präsident Morales aus dem Vorjahr sogar übertroffen haben. Damals hatte Morales etwas über 47 Prozent erreicht.
MAS zählt nach wie vor auf eine stabile Basis
Wie ist dieser überwältigende Wahlerfolg zu erklären, wo noch vor elf Monaten viele auf den Straßen »Evo Diktator« skandierten und Umfrageinstitute einen zweiten Wahlgang für wahrscheinlich hielten? Miguel Vargas, Direktor des Zentrums für Juristische Studien und Sozialforschung (CEJIS) in Santa Cruz, hält das Ergebnis für überraschend. Es »zeigt jedoch, dass das ethnische und populare Identifikationspotenzial der MAS nach wie vor Wirkung hat«, meint Vargas. Huascar Salazar, Ökonom und Sozialwissenschaftler aus Cochabamba, hingegen betont, dass die MAS-Wähler*innen mehr als nur überzeugte Anhänger*innen seien. Die Wähler*innen hätten vor allem ihre Ablehnung gegenüber der De-facto-Regierung zum Ausdruck gebracht, »eine Regierung, die nicht vor Mord, Raub und einer Befeuerung der Polarisierung zurückgeschreckt ist. Sie hat es auf eine Art und Weise gemacht, wie wir es von der uralten Rechten des Landes kennen«, so Salazars Erklärung.
Für die sozialen und indigenen Bewegungen, die die Partei ursprünglich als politisches Instrument ihrer Basisorganisierung ins Leben gerufen hatten und die auch den MAS-Wahlkampf unterstützten, war der Sieg in der ersten Runde keine Überraschung. »Wir sind im ganzen Land herumgereist und sind in allen 36 indigenen Nationen des Landes organisiert. Bei der Befragung der Menschen haben uns acht von zehn versichert, dass sie die MAS wählen werden. Die MAS hat zwar keine Mehrheit in den Städten, aber auf dem Land zählt sie auf breite Unterstützung. Wir wussten, dass wir 50 Prozent erreichen können, denn wir Indigenen sind die Mehrheit im Land«, so Juan Villca Flores von der Gewerkschaftskonföderation der Bauern von Bolivien (CSUTCB).
Rosario Aquim Chávez, Direktorin des alternativen TV-Kanals Abya Yala in La Paz erklärt gegenüber dem Autor, dass sie sich des Sieges der MAS in dem Moment sicher war, als sie vor den Wahlen einer Versammlung von mehr als 20 indigenen Hochlandnationen in Challapata beiwohnte. »Dort trafen die traditionellen Autoritäten die Entscheidung, ihre Gemeinden zur Wahl der MAS aufzufordern.« Dazu muss man wissen, dass es in vielen indigenen Gemeinden üblich ist, kollektive Entscheidungen in Versammlungen zu treffen.
Der deutliche Vorsprung und die absolute Mehrheit verleihen der neuen Regierung eine hohe Legitimität. Die verschiedenen internationalen Wahlbeobachtermissionen waren sich in ihren Berichten einig, dass ein Wahlbetrug auszuschließen und die demokratische Stimmabgabe friedlich und vorbildlich abgelaufen sei. Luis Almagro, Präsident der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), erkannte schon am Montag nach den Hochrechnungen die neu gewählte Präsidentschaft an, als die offizielle Auszählung gerade erst begonnen hatte. Und selbst der der MAS nicht gerade wohlgesonnene US-Außenminister, Mike Pompeo, schloss sich zwei Tage später den Glückwünschen an. Er brachte seine Hoffnung »auf eine Zusammenarbeit in Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse mit der demokratisch neu gewählten Regierung« zum Ausdruck.
Neben der Direktwahl des Präsidenten stimmten die Wähler*innen auch über die Zusammensetzung der Plurinationalen Legislativen Versammlung Boliviens ab. Im Abgeordnetenhaus erreichte die MAS 73 von 130 Sitzen und verfügt über die absolute Mehrheit. CC kam auf 41 und Creemos auf 16 Sitze. Im 36 Sitze starken Senat verfügt die MAS über eine satte Mehrheit von 21 Sitzen. Die CC hat hier 11 und Creemos 4 Sitze. Bemerkenswert ist die Geschlechterverteilung im Senat. 20 von 36 Vertreter*innen sind Frauen. Die MAS verliert jedoch ihre Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern, auf die sie sich in der vorherigen Legislaturperiode stützen konnte. Das bedeutet, dass sie bei der Verabschiedung von Gesetzen zu Verhandlungen mit der Opposition gezwungen sein wird.
Arce distanziert sich von Morales
Immer wieder wird Arce vorgeworfen, er sei nur eine Marionette von Morales. Tatsächlich war Morales im Exil maßgeblich beteiligt an der Entscheidung seiner Kandidatur als Präsident. Die Arbeiter-, Bauern und indigenen Organisationen des Einheitspaktes hatten zuerst Choquehuanca als Präsidentschaftskandidat vorgeschlagen und dafür Parteimehrheiten gefunden. Es war Morales, der Arce an vorderste Front beförderte, womit sich nach internen Debatten schließlich eine Mehrheit einverstanden zeigte. Choquehuanca, der jahrelang Außenminister in der Regierung Morales war, wahrte den Parteifrieden und akzeptierte Morales‘ Vorschlag. Strategisch ist es eine kluge Entscheidung: Der aus dem urbanen Mittelstand stammende Ökonom Arce gilt als Macher des bolivianischen Wirtschaftswunders des letzten Jahrzehnts. Und der Aymara Choquehuanca kann auf eine breite soziale Basis unter dem eher indigenistischen Flügel innerhalb der MAS zählen.
Gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters erklärte Arce nun vor ein paar Tagen, dass Ex-Präsident Morales keine Rolle in seiner Regierung spielen werde. »Er kann jederzeit ins Land zurückkehren, denn er ist Bolivianer. Aber wer Teil der Regierung sein wird und wer nicht, habe ich zu entscheiden«, stellte Arce klar. Damit bestätigt Arce eine gewisse Distanz zu Morales, die dieser schon zuvor erklärt hatte: »Wir haben durchaus Differenzen mit Evo und werden anders regieren als er, näher dran an den sozialen Bewegungen und vor allem an der Jugend.« Darin ist er sich mit Choquehuanca einig.
Morales hat weiterhin den Parteivorsitz der MAS inne. Laut Arce werde die Einflussnahme von Morales auf diese Funktion beschränkt bleiben. Vor ein paar Tagen hatte Arce in einem Interview selbstkritisch geäußert, dass es »der größte Fehler war, Evo Morales (im vergangenen Jahr als Präsidentschaftskandidat) erneut aufzustellen«. Das hat Morales mittlerweile auch selbst eingeräumt.
Heute feiern die MAS und ihre sozialen Bewegungen in ihrer Hochburg El Alto nicht nur den Wahlsieg, sondern vor allem die Verteidigung und die Rückeroberung des Prozesses des Wandels. Die offizielle Amtseinführung von Arce und Choquehuanca ist für den 8. November geplant. Danach geht der Wahlkampf in die nächste Runde, denn innerhalb von maximal 120 Tagen müssen die Regionalwahlen durchgeführt werden. Dann stehen die Gouverneure, Bürgermeister und Vertreter der Regionalparlamente zur Abstimmung. Vorteil der MAS: Sie verfügt quasi als einzige Partei über Anhänger und Mitglieder auf allen regionalen Ebenen.