Metamorphose des Imperialismus? Teil 2
USA und EU mögen unterschiedliche Herangehensweisen an internationale Beziehungen haben, imperialistisch sind sie allemal
Von Paul Dziedzic
Als bekannt wurde, dass die US-Armee einen Teil ihrer Truppenkontingente, unter anderem ihre Afrika-Kommandozentrale AFRICOM, aus Deutschland abziehen würde, war die Resonanz hierzulande verhalten. Diskutiert wurde, wenn überhaupt, welche negativen Folgen der Truppenabzug auf die Wirtschaft der Kommunen rund um Stuttgart haben würde. Weniger Beachtung fand die Tatsache, dass von der Kommandozentrale in Stuttgart aus Drohnenoperationen auf dem afrikanischen Kontinent koordiniert und gesteuert wurden. Nicht umsonst fand sich kein einziges afrikanisches Land, das bereit war, AFRICOM aufzunehmen: Die Operationen von AFRICOM treffen regelmäßig Zivilist*innen und stehen auf einem menschenrechtlich zweifelhaften Fundament.
Dennoch haben Drohnenangriffe der US-Armee Schule gemacht – mittlerweile gehört diese Art extra-legaler Tötungen zum Repertoire türkischer, russischer, saudi-arabischer und emiratischer Streitkräfte. Wer die neuen Player im Imperialismus-Game des 21. Jahrhunderts und was die inneren und äußeren Faktoren ihres Handelns sind, war Gegenstand des letzten Beitrags dieser Serie (ak 663). Diesmal gilt die Aufmerksamkeit dem guten alten »Westen«.
Liberale Imperien auf beiden Seiten des Atlantiks
Robert Cooper, der Tony Blair bei seiner Außenpolitik der »humanitären Intervention« beriet, später als Berater der EU-Außenpolitik tätig war und sich hier als einer der Architekten der EU-Sicherheitspolitik profilierte, forderte schon im Jahr des Irak-Krieges 2003 von Europäer*innen, sie sollten sich an Doppelstandards gewöhnen. »Unter uns halten wir uns an Gesetze, aber wenn wir im Dschungel operieren, müssen wir auch die Gesetze des Dschungels anwenden«, schrieb er in einem Essay, das in der britischen Sonntagszeitung The Observer erschien. Er sprach sich ganz offen für einen neuen, liberalen Imperialismus aus. Zwar löste der Beitrag Empörung bei EU-Fans aus, doch weniger wegen des Inhalts, als wegen der Begrifflichkeit. Man erinnere sich an Horst Köhlers Aussage 2010, der erklärte, Bundeswehreinsätze seien mit der Außenhandelsorientierung Deutschlands verbunden. Wegen der Empörung über diese Aussage trat er zurück – Bundeswehreinsätze gibt es immer noch. Fast zwei Jahrzehnte später schaut die Welt auf Europas unmenschliche Abschottungspolitik, die bis weit nach Westafrika hinein reicht. Was ist das anderes, als der EU-Imperialismus, von dem Cooper sprach? Die EU übt sich genau in dem, was Cooper forderte – die Widersprüche aushalten lernen durch zunehmende Desensibilisierung für das von ihr verübte Leid.
Generell baut die liberale Empörung über Aussagen von Cooper oder Köhler auf falsche Vorstellungen darüber, was die EU ist. Laut Gründungsmythos ist die EU eine Art Neustart und eine Abkehr vom Zeitalter des Hochimperialismus und der zerstörerischen Feindschaft zwischen Einzelstaaten, die zu zwei Weltkriegen führte. Doch in vielerlei Hinsicht finden sich schon in der Gründung der EU imperialistische Kontinuitäten. Peo Hansen und Stefan Jonsson zeigen das eindrücklich in ihrem 2014 veröffentlichten Buch »Eurafrica: The Untold History of European Integration and Colonialism«. Anhand von Aussagen und Beschlüssen der 1950er und 1960er Jahre wird sichtbar gemacht, dass die europäisch-afrikanischen Beziehungen beim Aufbau der EU eine zentrale Rolle spielten – sowohl auf materieller als auch auf ideologischer Ebene. »Euroafrica« ist die Bezeichnung für diese pseudo-symbiotische Beziehung zwischen den Kontinenten. Den Architekten der EU war schon früh klar gewesen, dass ihr ressourcenarmer Kontinent inmitten zweier Machtblöcke in Schwierigkeiten geraten könnte. US-Diplomaten sollen die Idee von Eurafrica auch als »Eurafrikanische Monroe-Doktrin« bezeichnet haben. Wie damals Zentral- und Südamerika für die USA, könnte der afrikanische Kontinent nun für Europa die Rolle des diplomatisch geschützten Rohstofflieferanten, des »Hinterhofs«, übernehmen. Die EU hatte Afrika damit nicht nur erfolgreich in ihre außenpolitische Expansionsstrategie integriert und diplomatisch an sich gebunden, sondern zugleich auch ein »Anderes« konstruiert, das der eigenen moralischen Aufwertung dienen würde.
Dem Eurafrica-Projekt ähnelt auch das postkoloniale Beziehungsgeflecht »Françafrique«. Frankreich war nach dem zweiten Weltkrieg von antikolonialen Kämpfen in die Knie gezwungen worden – erst in Vietnam, dann in Algerien. Unter diesem Verlust brach die vierte Republik zusammen und das Imperium musste sich neu konstituieren. Über viele Länder West- und Zentralafrikas hat Frankreich dennoch großen politischen, ökonomischen und militärischen Einfluss enfalten können. Françafrique ist ein gutes Beispiel für zeitgenössischen Imperialismus. Dieser richtet sich vor allem an wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen aus, wie der günstige Zugang zu primären Ressourcen und die Funktion der betreffenden Staaten als Absatzmärkte für Exporte (ak 656). Doch in den afrikanischen Ländern ist der Widerstand in den letzten Jahrzehnten ebenfalls stärker geworden. Und die Gegner*innen Frankreichs erhalten nun Unterstützung von Russland oder der Türkei, die daran interessiert sind, Frankreich zurückzudrängen. Neue Staatsführer dieser west- und zentralafrikanischen Länder haben es zunehmend schwer, Wahlen zu gewinnen, wenn sie wie die »Lakaien« Frankreichs wirken.
Aktivist*innen in den USA verstanden es, das hierarchische Beziehungsgeflecht zwischen ihnen und dem Rest der Welt begrifflich zu fassen: als Imperialismus
Anders steht es um den US-Imperialismus. Woodrow Wilson, Zwischenkriegspräsident, hatte die USA als antikoloniale Macht aufgestellt, weil er um den Einfluss der Sowjetunion in der kolonisierten Welt bangte. So nahm sein Land die Rolle des »guten Cops« im transatlantischen Tandem ein. Doch spätestens in den 1960ern konzentrierten sich viele Antiimperialist*innen weltweit auf den US-Imperialismus und dessen Folgen für die Menschen in Vietnam und in den vielen anderen Ländern, in die die USA einmarschierten und intervenierten. Und nicht nur das: Wie bereits in Frankreich, Deutschland und dem UK verstanden es Aktivist*innen in den USA, das hierarchische Beziehungsgeflecht zwischen ihnen und dem Rest der Welt begrifflich zu fassen: als Imperialismus. Cornel West, ein US-amerikanischer Aktivist und Gelehrter, der auch schon in den 1960er Jahren mitmischte, wird nicht müde, diesen Geist des Antiimperialismus am Leben zu erhalten. In einem Interview mit Middle Eastern Eye sagte er: »Beerdigungen wie die von Bruder George Floyd, wo diese Tränen flossen, gibt es auch in Afghanistan, in Pakistan, in Mali – überall, wo die USA eine unverhältnismäßig große Rolle spielen.« Gerade Schwarze in den USA wissen, wie es ist, wenn die Waffen dieser Nation auf sie gerichtet sind.
Verschiedene Geschmäcker, gleiche Misere
Und da schließt sich der Kreis: Zu sagen »Black Lives Matter« bezieht sich auch auf die Menschen, die das Mittelmeer überqueren, auf jene, die von Drohnen aus der Luft hingerichtet werden, auf jene, die in Europa jeden Tag Diskriminierung erleben oder auf Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, die aufgrund von Europas Handelspolitik in den Ruin getrieben werden oder vom Klimawandel, den sie nicht verursacht haben. Das Beziehungsgeflecht zwischen Europa oder den USA und diesen Ländern lässt sich auch heute noch treffend mit dem Begriff Imperialismus fassen. Und in all diesen Fällen sind die imperialistische Akteure selbst sehr unterschiedlich, wie aus dem letzten Beitrag in dieser Serie nun klar sein sollte. Es bleibt nur die Frage, ob Konzepte wie Imperialismus wirklich reichen, um die Komplexität der Staatenwelt des 21. Jahrhunderts zu beschreiben. Und wenn ja, was das konkret für eine linke Praxis bedeuten könnte. Dazu mehr im dritten Teil dieser Serie.
Dieser Text ist der zweite Teil eines Beitrags im Rahmen der Vortragsreihe der jour fixe initiative mit dem Titel »Kreolische Konstellationen: Kolonialismus Imperialismus Internationalismus«.
Zurück zu Teil 1
Weiter zu Teil 3