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Die Unterschiedlichkeit fruchtbar machen

Der Sammelband »Solidarität unter Schneeflocken« versucht, eine gemeinsame Utopie zu entwickeln

Von Frédéric Valin

Großaufnahme einer Schneeflocke
»Allein machen sie dich ein« – das weiß jede Schneeflocke. Foto: PIXNIO, CC0

Die Diskussion rund um Identitätspolitik ist eine der wichtigsten Debatten innerhalb und außerhalb der Linken aktuell. Intersektionale Positionen versuchen dabei, Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten systematisch Ausgegrenzter darzustellen und politisch greifbar zu machen. Eine zentrale Kritik an intersektionalen Positionen ist, dass sie apolitisch-kulturalistisch seien, weil sie Gefühlen und Erfahrungen von Marginalisierten einen Erkenntnisvorsprung vor privilegierten Personen zugestehen.

Diese als »Empfindlichkeit« verbrämte Haltung schlägt sich in der vor allem in den USA verbreiteten Herabwürdigung ihrer Anhänger*innen als sensible »snowflakes«, Schneeflocken, nieder. Schneeflocken, das sind zarte und verletzliche Gebilde, jede einzigartig auf ihre Art. Eine Bezeichnung für jene, die sich eine utopische Kuschelwelt zusammenfantasieren und von jeder Störung verschreckt werden. »Wir seien krankhaft selbstbezogen, andauernd beleidigt und nicht ernst zu nehmen«, so fassen die Verfasser*innen des Buches die Vorwürfe zusammen, die ihnen entgegenschlagen. Dabei sei gesamtgesellschaftlich etwas ganz anderes gefragt, nämlich Werte, die »wir üblicherweise mit Männlichkeit und Durchsetzungsfähigkeit verbinden: Stark sein, aushalten, nicht quatschen, sondern machen«.

Aber was heißt es tatsächlich, eine Schneeflocke zu sein? In dem Band versucht, ein Kollektiv von Autor*innen eine Antwort auf diese Frage zu finden. Was sie zusammenhält, ist keine gemeinsame Doktrin, sondern eine grobe Richtung in Form einer geteilten Fragestellung: Wie könnte es aussehen, das gute Leben für alle, und wie kommt man dahin? In Form von literarischen, feuilletonistischen, soziologischen und/oder philosophischen Essays versuchen sich die Texte, einer Antwort zu nähern, die ich sehr grobschlächtig unter dem Label »Solidarität« verschlagworten würde.

Das Buch fragt nach Privilegien, Macht, Möglichkeiten unter der Prämisse der Prekarität. Programmatisch heißt es im Einleitungsteil: »(Wir) leben in einer Kultur der Anpassung und Entsprechung, der Zurichtung und Verwertbarkeit. Als Arbeiter*innen und Konsument*innen sind wir Teil eines Systems, sollen funktionieren, statt zu gestalten, es sei denn, wir tun es marktgängig. Dieses Buch will etwas sichtbar machen und etwas neu erfinden.«

Aus der Not eine Tugend machen

Diese Neuerfindung ist eine Wendung, die die Rettung des Individuums vor dem Neoliberalismus vollzieht. Erst aus der Sorge um das »Sich« ergibt sich mit Michel Foucault »das Bemühen, seine Freiheit zu behaupten und seinem eigenen Leben eine bestimmte Form zu geben, in der man sich anerkennen und von den anderen anerkannt werden konnte.« Das Individuum ist dabei, ergänzt Viola Nordsieck, »nicht als geschlossen, starr und fertig zu denken, sondern als dynamisch, porös und fließend: ein offenes, bewegliches prozessuales System. Mit einem solchen Selbstbild ist es möglich, sich in eine solidarische Gemeinschaft einzufügen, ohne die Eigenständigkeit aufzugeben.«

Das Buch überzeugt zum einen mit einem hervorragenden Einleitungsteil, der in Kürze und Klarheit, nichtsdestotrotz sehr umfassend aktuelle politische und weltanschauliche Konflikte aufzeigt. Die Texte erwarten von der Zukunft eine »strukturelle Verunsicherung (…), die massive Diskreditierung staatlicher & kommunaler Formen/Zuständigkeiten, totale Privatisierung aller Aspekte des Lebens, extreme, ideologische Individualisierung«. Eine derart exzellent geschriebene und klar verständliche Ideengeschichte der jüngsten Vergangenheit wie in diesem Band ist schwer zu finden.

Dabei ist dem Buch anzumerken, dass es ein Versuch ist: Es gibt durchaus stark widersprüchliche Positionen in den verschiedenen Texten. Das ist aber kein Fehler, sondern Teil des bündnisoffenen Konzeptes. Der Wunsch des Buches ist, wie Houssam Hamade es formuliert, »eine Kultur, die lernt, über die eigene Verletzlichkeit zu sprechen, also auch über Machtverhältnisse, Privilegien und über Solidarität.«

Wie das passieren soll, ist weniger klar. Einen Vorschlag von Linda Behrisch, der auch in weiteren Texten auftaucht, ist die Idee einer inklusiven Politik, die auf den Prinzipien Subsidiarität, Selbstwirksamkeit und Möglichkeit zur Teilhabe basiert. Linda Behrisch beobachtet eine zunehmende Entmachtung der Wähler*innen und schlägt Maßnahmen und Netzwerke zur Stärkung der Bürger*innen vor. Ein Problem dieses Ansatzes ist es, dass er Nicht-Staatsbürger*innen – also gerade jene, die rechtlich besonders prekär leben – nicht mitdenkt und rein im nationalstaatlichen Rahmen bleibt.

Trotz aller Unterschiede gemeinsam suchen

Diese Art inklusiver Politik ist ein Abwehrkampf gegen autoritäre Tendenzen als ein emanzipatorisches Projekt. Folgerichtig setzt Behrisch auf die Sicherheit und Stabilität der aktuellen Politiklandschaft, die sie als Voraussetzung einer konflikthaften politischen Kultur sieht; ein Argument, mit dem sich linke Bewegungen regelmäßig selbst entzahnen, sobald sie versuchen, breite Mehrheiten zu organisieren. Behrisch verfolgt damit einen Ansatz, der sich gut mit Theorien der Sozialen Arbeit verträgt, unter anderem auch, weil sie in der Methodik auf Kommunikation setzt. Auch dort wird viel mit dem – im Buch immer wieder und nicht genug problematisierten – Inklusionsbegriff hantiert, der zumindest in der Sozialen Arbeit allzu oft den Anpassungsdruck an die sogenannten »Adressat*innen« weitergibt.

Überzeugender ist der Ansatz Houssam Hamades, der mit Hannah Arendt gegen den aktuell sehr verbreiteten linken Populismus argumentiert. Er führt das Konzept der »schwierigen Solidaritäten« ein, das nicht blind ist für Interessengegensätze. Sein Beispiel einer gelungenen Bewegung sind die Bergarbeiterstreiks in Großbritannien der 1980er, die von queeren Aktvisti*innen unterstützt werden; die vorhandenen queerfeindlichen Ressentiments und Feindseligkeiten werden innerhalb der Bewegung angesprochen und bearbeitet.

Auch das ist eher ein Beispiel aus der Praxis als eine Idee für eine neue Gesellschaft. Der im Sammelband nur in Ansätzen erkennbare Zukunftsentwurf, der in dieser Besprechung kritisiert wurde, kann aber genauso gut neutraler als Leerstelle bezeichnet werden: als Punkt, den es immer wieder und immer neu auszuhandeln gilt und um den solidarisch gestritten werden soll. Insofern ist er ein Bekenntnis und eine Aufforderung zuzuhören und – ja – empfindlich zu bleiben.

Frédéric Valin

ist Autor. In ak schreibt er die Kolumne »Torten & Tabletten«. Zuletzt erschien sein autobiografischer Roman »Ein Haus voller Wände« (Verbrecher-Verlag 2022) über seine Arbeit als Pfleger.

Timo Klattenhoff, Johanna Montanari und Viola Nordsieck (Hg.): Kultur und Politik im prekären Leben: Solidarität unter Schneeflocken. Neofelis, Berlin. 340 Seiten, 20 EUR