Keine Farbenrevolution à la Ukraine
In Belarus gehen hunderttausende Menschen auf die Straße. Alesja Belanovich-Petz fragt, wo die Solidarität der Linken bleibt
Interview: Carina Book
Seit über zwei Monaten gehen in Belarus in kleinen und großen Städten hunderttausende Menschen für demokratische Veränderungen und für ihre Grundrechte auf die Straße. Das Regime von Aljaksandr Lukaschenka reagiert mit massiver Gewalt und Repression. Bis heute sind rund 14.000 Menschen inhaftiert worden. Die UNO hat in ihrem Bericht über 450 Fälle von Folter und Misshandlungen dokumentiert. Das Internet wird ständig blockiert, die Zivilgesellschaft, Medien und Journalist*innen stehen unter massivem Druck. Alesja Belanovich-Petz über die Situation vor Ort, die Ziele der Bewegung und was die Belarus*innen von der europäischen Linken erwarten.
Wie ist es für dich, die Proteste in Belarus aus Deutschland zu verfolgen?
Alesja Belanovich-Petz: Es gibt hierzulande große Unwissenheit über meine Heimat. Belarus wird oberflächlich als Anhängsel von Russland wahrgenommen. Früher wurde ich oft gefragt: »Woher kommst du? Aus Weißrussland? Schön, ich war letzten Sommer in Moskau«. Das ändert sich gerade ein wenig. Belarus steht im Fokus der Öffentlichkeit und wird endlich nicht nur als Objekt der EU-Russland-Politik wahrgenommen, sondern als eigenständiges Subjekt. Dabei hoffe ich, dass die Belarus*innen noch mehr Unterstützung aus meiner Wahlheimat erfahren. Denn sie gehen auf die Straßen, um zu sagen: Wir wollen, dass alle politische Gefangenen frei gelassen werden, dass neue und faire Wahlen ohne die menschenverachtende Autokratie stattfinden können, dass Folter und Mord an den Demonstrierenden staatsrechtlich verfolgt und verurteilt werden. Es geht nicht um geopolitische Strategien oder um politische Ideologien. Es geht um das einfache Recht, seine Meinung zu sagen und sich selbst organisieren zu dürfen. Auch deswegen habe ich schon früh eine enge Beziehung zu Deutschland und zu sogenannten linken Idealen entwickelt. Weil hier Mitbestimmung und Emanzipation gelebt werden.
Alesja Belanovich-Petz
lebt in Berlin uns ist freie Projektmanagerin und Bildungstrainerin
Freie Meinungsäußerung, staatsrechtliche Verurteilungen, Mitbestimmung – das alles klingt für mich, als würden Belarus*innen sich eine bürgerlich-liberale Demokratie wünschen. Ist das nicht eher eine Farbenrevolution?
Es ist für die Linke in Deutschland an der Zeit, die Situation in Belarus frei von ideologischen Mustern zu begreifen. Bei uns passiert keine »Farbenrevolution à la Ukraine« wie 2004. Unsere Lage lässt sich ohnehin nur schwer mit ähnlichen Prozessen in anderen postsowjetischen Ländern gleichsetzen. Die Proteste werden von Werten der Emanzipation, Solidarität und Partizipation getragen. Das zeigt sich in der dezentralen Organisation der Proteste selbst, aber auch in der Solidarität mit den streikenden Arbeiter*innen der staatlichen Betriebe, in der Unterstützung der unabhängigen Gewerkschaften, bei den feministischen und anarchistischen Gruppen sowie bei den LGBTI-Aktivist*innen, die wichtige Motoren dieses Protests sind.
Da fehlen ja noch einige, um von einer breiten Massenbewegung zu sprechen, oder?
Jeden Samstag demonstrieren die belarusischen Frauen mit eigenen Protestmärschen. Sonntags gehen verschiedene gesellschaftliche Gruppen auf die Straße. Seit kurzem gehört auch der Montag zu den etablierten Protesttagen. Die Rentner*innen haben sich zusammengefunden und protestieren ihrerseits gegen die exzessive Gewalt und gegen die massiven Repressionen. Sie galten lange Zeit als stabile Unterstützung des autokratischen Systems.
Jetzt wenden auch sie sich ab. Der Protest hat längst alle Schichten der Gesellschaft erreicht, die sich im Wunsch nach einem anderen, offenen und lebenswerten Belarus vereinen.
Unsere Freundin und Übersetzerin Iryna Herasimovich aus Minsk bezeichnet diese Situation in ihrem Gastbeitrag in der FAZ als einen Raum, der in Bewegung geraten sei. Als eine Herausforderung und eine Chance zugleich, eine komplexe, weit verzweigte Gesellschaft aufzubauen, die endlich ihr eigenes Schicksal in die Hand nimmt und sich nicht von fremden Mächten, Besatzern oder Autokraten beherrschen lässt, wie dies in den vergangenen Jahrhunderten der Fall war. Belarus verfügte lange über keine eigene Staatlichkeit. Die gibt es erst seit dem Ende der Sowjetunion. Vorher waren wir Teil der polnisch-litauischen Adelsrepublik, des Russischen Zarenreiches oder eben der Sowjetunion. Wir haben uns eingefügt und angepasst, wir haben uns verbogen, uns unsichtbar gemacht.
Deshalb die Nationalfahnen auf den Demonstrationen?
Die offizielle rot-grüne Fahne wird als ein Symbol des patriarchalen und unterdrückenden Staates wahrgenommen wird. Allein die Bilder von Gefängnistransporten, die mit rot-grünen Fähnchen geschmückt sind, stehen aussagekräftig dafür. Wir sind nicht alle verkappte Nationalisten, nur weil die weiß-rot-weiße Fahne das Symbol des Protests gegen das Lukascheka-Regime geworden ist. Die Fahne selbst hat eine komplexe Geschichte. Aber nun ist sie zu einem Symbol einer neuen Unabhängigkeit geworden.
Es ist die Rede von exzessiver Gewalt und Repression. Was passiert da gerade in Belarus?
Bis heute sind über 14.000 Menschen inhaftiert worden. Die UNO hat über 450 Fälle von Folterungen und Misshandlungen dokumentiert. Sieben Menschen sind im Rahmen der Proteste umgekommen bzw. umgebracht worden. Es herrscht die reinste Willkür. Mein Kollege und Freund, der Übersetzer Siarhei Paulavitski, wurde bei Nachbarschaftstreffen unweit seines Hauses verhaftet. Das Treffen wurde als nicht genehmigte Kundgebung eingestuft. Gemäß Artikel 23.34 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten »Verletzung der Organisation oder Durchführung von Massenveranstaltungen« kann das in Belarus mit einer Geldstrafe oder Haftstrafe verfolgt werden. Siarhei musste sieben Tage ins Zhodino-Gefängnis. Im Grunde macht sich jede Person, die an einer Demonstration teilnimmt, gemäß Artikel 23.34 strafbar und kann jederzeit wegen Teilnahme an einer nicht genehmigten Kundgebung verhaftet und angeklagt werden. Man kann sagen, dass dieser Artikel für diesen Zweck festgeschrieben wurde. Über dieses repressive Schlüsselgesetz lässt das Regime auch prominente Unterstützer*innen des Protests besonders öffentlich wirksam bestrafen.
Ok, ich verstehe, dass sich die Menschen mehr Freiheit wünschen, aber ist es nicht so, dass sie am Ende keine Freiheit, sondern nur neoliberalen Kapitalismus bekommen?
Wer sagt das? Und woher kommt diese Überzeugung, dass es so sein wird? Erst einmal wollen wir selbst darüber bestimmen, wohin sich unser Land entwickelt. Für diese Möglichkeit kämpfen wir gerade. Und Lukaschenka ist nicht der Bewahrer des staatlichen Sozialismus. Die Belarus*innen wissen sehr gut, dass ihnen schwierige Zeiten ins Haus stehen, wenn der Wandel kommt, wenn die Wirtschaftskrise durchschlagen wird, wenn die unrentablen Staatsbetriebe ihre Leute entlassen müssen, wenn der politische Raum sich öffnet und möglicherweise auch von extremen Kräften herausgefordert werden wird. Aber es ist kein Zeichen der Solidarität, wenn von außen ständig darauf hingewiesen wird, dass angeblich die globale Wirtschaft das Land übernehmen wird. Was hilft: echtes Verständnis, echtes Interesse an uns und unseren Herausforderungen. Die negativen Erfahrungen aus der Abwicklung der DDR-Wirtschaft wollen wir nicht wiederholen. Wir wollen auch keine Oligarchisierung, die vielen postsowjetischen Ländern so viele Probleme beschert hat. Tatsächlich brauchen wir neue linke Ideen. Aber solche, die auf unsere spezifischen Herausforderungen eingehen, indem sie uns ernst nehmen, und die berücksichtigen, dass die Bevölkerung in Belarus unter dem sowjetischen Regime gelitten hat. Auch diese kulturhistorische Aufarbeitung steht noch aus, weil sie vom Regime Lukaschenka bis heute verhindert wird.
Welches Zeichen der Solidarität braucht es denn?
Die Arbeiter*innen der Lufthansa Technik in Hamburg haben sich kürzlich mit dem Arbeiter*innen in Belarus solidarisiert, indem sie sich geweigert haben, Lukaschenkas Maschine zu warten. Ich wünsche mir sehr solche Aktionen. Olga Shparaga antwortete in einem Interview über ihre Verhaftung auf die Frage, welche Solidarität ihr grundsätzlich fehle, dass die Belarus*innen selbst für ihre Sache eintreten. Aber ihr sei aufgefallen, dass die Feministinnen anderer Länder sich kaum mit dem politischen Empowerment der Frauen in Belarus solidarisieren würden. Olga wurde zu 14 Tagen Arrest verurteilt. Sie hofft, wie viele, dass die Belarus*innen nicht aufhören zu protestieren. Und ich hoffe einfach nur darauf, dass es lediglich ein bisschen mehr Zeit braucht, bis die Solidarität mit den Belarus*innen endlich auch aus den linken emanzipatorischen Kreisen laut und hörbar werden wird.