Ein ganz normales Dorf
Wie schnell der Hass auf Sinti und Roma in Gewalt mündet, zeigt der antiziganistische Anschlag in Dellmensingen. Ein Interview mit Chana Dischereit
Interview: Carina Book
Das 2.800 Einwohner-Dorf Dellmensingen ist ein Ortsteil von Erbach in Baden-Württemberg. Ein ganz normales Dorf mit einer Brauereigaststätte namens »Adler« und einem jährlichen Maibaumwettbewerb. Als 2019 französische Bürger*innen mit Romani-Hintergrund die Wiese eines Bauern anmieten und dort Wagen aufstellen, rumort es im Dorf. Roma in Dellmensingen – ist das noch ordnungsgemäß? Am 24. Mai 2019 wird eine brennende Fackel auf eine Unterkunft geworfen und antiziganistische Ausdrücke gerufen. Das Landgericht Ulm verurteilte fünf Angeklagte im September 2020 wegen gemeinschaftlicher schwerer Nötigung zu Bewährungsstrafen, nachdem sie bereits zehn Monate in Untersuchungshaft verbracht hatten. Chana Dischereit vom Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg, hat den Prozess begleitet. Der Verband vertritt die Interessen aller Personen, die in Dellmensingen angegriffen wurden – im Speziellen die Mutter, die zur Tatzeit im Wohnwagen schlief, und ihr neun Monate altes Baby.
War den Betroffenen nach dem Fackelwurf am 24. Mai 2019 sofort klar, dass das ein antiziganistisch motivierter Anschlag gewesen ist? Und wie geht es den Betroffenen damit?
Chana Dischereit: Das hat natürlich einen Schreck und Angst ausgelöst. Sie haben Dellmensingen nach dem Anschlag verlassen. Leider gehören Anfeindungen in den Alltag von Menschen mit Romani-Hintergrund. Über die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland lehnt Sinti und Roma als Nachbarn ab. Das Besondere in diesem Fall ist, dass die Staatsanwaltschaft die Tat direkt als antiziganistisch einstufte und es zu einer Anklage wegen versuchten Mordes kam.
Hatte es schon vorher Drohungen gegen die Bewohner*innen der Wiese gegeben?
Ja, das war wie eine Eskalationsspirale. Schon 15 Minuten, nachdem die Personen angekommen waren, bekam der Vermieter der Wiese angeblich einen Anruf vom Ortsvorsteher, der gesagt haben soll, dass es Beschwerden aus dem Dorf gebe.
Also rumorte es schon von Beginn an?
Die Polizei ist dieser Aussage während der Ermittlungen nach den Tätern nochmal nachgegangen. Der Ortsvorsteher wurde erneut befragt, denn der Polizei hatte er mutmaßlich zunächst verschwiegen, dass Dorfbewohner bei ihm angerufen hatten, um sich zu beschweren. Der Ortsvorsteher sagte dann aus, er hätte den Anruf bei dem Bauern nie getätigt.
Er hat gelogen?
Die Polizei hat vor Gericht wiederholt, dass sie die Aussagen des Ortsvorstehers als »mit Sicherheit nicht glaubhaft« eingestuft hat. Die Polizei hat dieser Information dann im Laufe der Ermittlungen aber nicht mehr so viel Bedeutung beigemessen. Als der Ortsvorsteher vor Gericht geladen wurde, hat er allerdings ausgesagt, dass er der Polizei sehr wohl gesagt hätte, dass es Anrufe gegeben habe. Die Polizei hätte demnach also einen falschen Bericht geschrieben.
Weiß man inzwischen, wer die Wahrheit sagt, oder ob es solche Anrufe gegeben hat?
Mittlerweile haben sich Leute gemeldet, die sagen, sie hätten bei dem Ortsvorsteher angerufen. Allerdings nicht um sich zu beschweren, sondern um zu überprüfen, ob sich die Leute auch ordnungsgemäß eingemietet hätten und sich nicht rechtswidrig dahingestellt hätten. Der Ortsvorsteher hat diese Anrufe jedenfalls zum Anlass genommen, direkt mit dem Fahrrad dahinzufahren und eine Ortsbegehung zu machen. Danach hat er dann bei dem Bauern angerufen und gefragt, ob er wisse, was da auf seinem Privatgrundstück vor sich ginge.
Chana Dischereit
studierte an den Universitäten in Heidelberg und Berlin. Nach ihrem Masterabschluss in Zukunftsforschung nahm sie ihre Arbeit beim Landesverband Deutscher Sinti und Roma in Baden-Württemberg als Referentin auf, hier in den Bereichen Bildung, Presse, Kultur und Wissenschaft. Sie engagiert sich seit Jahren gegen Rassismus, insbesondere im Zusammenhang mit der Mordserie des NSU. In Dellmensingen steht nun eine Veranstaltung zur Geschichte und Gegenwart der Minderheit bevor und ein Runder Tisch zusammen mit dem Antisemitismusbeauftragten des Landes.
Wie ging es dann weiter?
Es ist immer noch Tag eins, der Ankunftstag. Einer der Angeklagten fährt zu der Wiese hin und fotografiert die Wohnwagen ab. Die Fotos schickt er in dann in eine Fußball-Chatgruppe und schreibt sowas wie: »In Dellmensingen, sind Z******!«. Am Abend trifft sich dann eine Gruppe von Jugendlichen, um bereits erste Vertreibungsaktionen vorzubereiten. Zuerst wurde ein Böller auf die Wiese geworfen und ein Schild abgelegt mit der Aufschrift »155 bleibt deutsch«. 115 steht für Erbach. Wieder ein paar Tage später wurde ein stark verwester Schwan an derselben Stelle abgelegt. Und dann, ein Tag vor dem Dorffest, flog diese brennende Fackel. Man kann hier richtig sehen, wie die Eskalationsstufen waren.
Wie war die Stimmung im Dorf?
Die Menschen auf der Wiese wurden als Roma klassifiziert und waren laut Zeugenaussagen und Aussagen der Angeklagten das Gesprächsthema Nummer eins im Dorf. Aber wer was gesagt hat, verrät niemand. Aber wir wissen beispielsweise, dass auf der Fußballtribüne negativ geredet wurde. Einer der Angeklagten hat im Prozess ziemlich klar gesagt: »Mein ganzes Dorf ist ziemlich rechts.« Und ein anderer meinte: »Wenn Sie nach den Bildern auf meinem Handy gehen, dann können Sie jeden zweiten bei uns im Dorf verhaften.« Auf seinem Handy waren unter anderem Bilder von Hitlers Geburtstag oder eine Chatgruppe namens Auschwitz-Funpark. Natürlich sind diese Aussagen schwierig, weil Angeklagte versuchen, sich selbst zu schützen, aber Fakt ist: Es war Gesprächsthema Nummer eins im Dorf, und auch der Vermieter der Wiese hat ausgesagt, dass er angesprochen wurde. Auch er hat niemanden direkt benannt. Er hat aber gesagt, dass 60 Prozent der Meinung gewesen wären, dass das mit der Vermietung keine gute Idee sei.
Das klingt als wäre da ziemlich Stimmung gemacht worden.
Ich habe gerade für die Leipziger Autoritarismusstudie anhand dieser Attacke analysiert, welches Gesicht der tief verwurzelte Antiziganismus in der Mitte der Gesellschaft zeigen kann und wie schnell eine Stimmungsmache zu Gewalt führen kann. Eine der Fragen, die mich beschäftigt haben, ist, inwiefern sich diese jungen Angeklagten bevollmächtigt gefühlt haben könnten, loszuziehen und Menschen im Schlaf anzugreifen, die niemandem etwas getan haben. Das erinnerte mich zunächst an Rostock-Lichtenhagen. Damals sind ja auch viele Menschen mit Romani-Hintergrund vor der ZAST angegriffen worden.
Kamen die fünf Angeklagten aus Dellmensingen?
Nicht alle kamen aus Dellmensingen direkt, aber aus den umliegenden Dörfern.
Waren die zum Beispiel in einer Kameradschaft organisiert, oder ist das quasi der rassistische Normalzustand, der die motiviert hat?
Die Angeklagten waren unterschiedlich organisiert oder nicht organisiert. Vier der fünf Angeklagten waren in der Gruppe Pubboys. Die ist eine Hooligangruppe gewesen, die sich mit der Inhaftierung von denen aufgelöst hat. Das war einer Untergruppe der »Donau-Crew« des SSV Ulm. Die Angeklagten sind auch noch sehr jung: Die meisten 19, der jüngste Täter war zum Tatzeitpunkt 17. Getroffen haben sie sich immer in einer, wie sie es nennen, Bude in Dellmensingen. Die hat der Familie eines der Angeklagten gehört. Da haben sie laut Zeugen abends zuerst Freiwild gehört, dann Böhse Onkelz, und später am Abend wurde dann Landser gespielt. Landser ist eine Musikgruppe, die wegen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung verboten wurde.
Gab es auch Leute, die sich dagegen engagiert haben oder sich auf die Seite der Menschen mit Romani-Hintergrund gestellt haben?
Ein Angeklagter hat ausgesagt, dass es auch Leute gegeben habe, die gesagt hätten: »Ach, lasst die doch.«
Das war´s?
Als der Gerichtsprozess begann, wurden zwei Spaziergänge gegen Rassismus – unter anderem am Jahrestag des Anschlags – von engagierten Bürger*innen anonym organisiert. Trotz der Pandemie kamen unglaublich viele Menschen. Manche von ihnen waren natürlich motiviert zu kommen, weil die Aussage eines Angeklagten – sein ganzes Dorf sei ziemlich rechts – durch die Medien gegangen war. Ich würde sagen, es ist ein ganz normales Dorf, es ist nicht mehr rechts als andere Dörfer. Nachdem einer der Angeklagten diese Aussage getätigt hatte, gab es zwei Stellungnahme: eine vom Dorf und eine vom Bürgermeister von Erbach. Darin wurde gesagt, eine rechte Szene in der Gegend sei nicht bekannt. Der Ortschaftsrat betonte: Es gäbe 2.800 Einwohner in Dellmensingen und auch wenn man manchmal unterschiedlicher Meinung wäre, so sei man sich doch in dieser Sache einig, dass sie nicht rechts seien. Nachdem der Landesverband seine Position erklärte, wurde auch eine Stellungnahme aus Erbach abgegeben, die die Attacke gegen die Menschen mit Romani-Hintergrund explizit verurteilte.
Wie war der Umgang der Polizei mit dem Vorfall und den Betroffenen? Haben die von Anfang an wegen eines antiziganistischen Motivs ermittelt?
Fast. Die erste Einstufung war: Sachbeschädigung. Einer der Polizisten, die zuerst vor Ort waren, hat auch vor Gericht gesagt, dass er das als »Dumme-Jungen-Streich« angesehen hätte. Aber sobald das bei der Staatsanwaltschaft Ulm – später Stuttgart – lag, wurde sofort wegen Antiziganismus und versuchtem Mord und versuchter Brandstiftung ermittelt. Das war für uns sehr bemerkenswert, dass die Tatmotivation so schnell erkannt wurde und die Ermittlungen wegen versuchten Mordes eingeleitet wurden. Auch vor Gericht hatten wir das Gefühl, dass es einen ernsthaften Aufklärungswillen gab und allen Fragen nachgegangen wurde und der Untersuchung der Tatmotivation sehr viel Raum gegeben wurde. Der Nebenklageanwalt Dr. Mehmet Daimagüler, der auch Anwalt im NSU-Verfahren war, hatte zum Beispiel einmal dazu angesetzt zu erklären, was Freiwild und Landser für Bands sind. Aber das war der Kammer sehr geläufig. Das war ein großer Unterschied zum NSU-Prozess, wo wirklich alles erklärt werden musste.
Wie bewertet ihr das Urteil?
Das Urteil ist für uns historisch, weil uns in Deutschland nach 1945 kein Fall bekannt ist, in dem wegen antiziganistischer Vertreibung verurteilt wurde. Es gibt einen bekannten Fall in Baden-Württemberg von 1957. Damals wollte eine Sinti-Familie in das 425-Einwohner-Dorf Magolsheim ziehen. Aber noch bevor sie einziehen konnte, hat sich die Dorfgemeinschaft zusammengetan und mit Bulldozern das Haus abgerissen. Am nächsten Morgen war da nur noch Schutt. 31 Tätern ist damals der Prozess gemacht worden. Sie sind wegen Landfriedensbruch und Zerstörung von Bauwerken verurteilt worden. Den Tatbestand der Vertreibungen gibt es in Deutschland auch gar nicht. Das heißt dann »schwerer Fall von Nötigung«. Deswegen ist es für uns historisch, dass wegen Vertreibung in 45 Fällen verurteilt wurde. Der Staatsanwalt behält sich momentan noch eine Revision vor. Versuchter Mord und versuchte Brandstiftung wurde aufgrund von mangelnden objektiven Indizien fallen gelassen.
Hat sich durch das Urteil was verändert?
Uns war nicht das Strafmaß an sich wichtig. Uns war erstens wichtig, dass Antiziganismus klar im Urteil benannt wurde. Und dass die Angeklagten sehr deutlich als Rassisten und Antiziganisten markiert wurden, auch wenn sie sich selbst zum größten Teil als »rechts offen« beschrieben haben. Zweitens ist uns wichtig gewesen, dass die Tragweite der Attacke sichtbar wurde. Antiziganisten müssen sich nicht in rechten Organisationen befinden Der Antiziganismus ist tief in der Mitte der Gesellschaft verwurzelt. Es ist die Mitte, die nicht neben Sinti und Roma als Nachbarn leben will, und durch den Konsens der Mitte, kann dies in Gewalt eskalieren.