Vergessenes Rotes Kurdistan
Die Vorgeschichte des ersten autonomen kurdischen Gebietes begann vor 100 Jahren mit der Sowjetisierung von Transkaukasien
Von Ewgeniy Kasakow
Es ist ein vergessenes Kapitel linker und kurdischer Geschichte: Das »Rote Kurdistan«, eine autonome Provinz in der ehemaligen Sowjetunion, bestand nur sechs Jahre, von 1923 bis 1929, der Grundstein dafür wurde schon früher gelegt. Am 28. April 1920 überquerten die Panzerzüge der XI. Roten Armee die Grenze der Aserbaidschanischen Demokratischen Republik – die sich innerhalb von zwei Tagen fast widerstandslos zu einer Sowjetrepublik transformierte. Damit begann die Sowjetisierung von Transkaukasien, einer Region, die sich seit 1917 größtenteils außerhalb des bolschewistischen Machtbereiches befand. Lenins Anhänger*innen waren in der Region nur mit schwachen Parteistrukturen vertreten, so dass die Sowjetmacht vor allem in Form von militärischer Hilfe der russischen Genoss*innen zu den zuvor gegründeten örtlichen »Revolutionskomitees« gelangte.
Für Sowjetrussland war der Südkaukasus eine Region von strategischer Bedeutung. Außer dem kaspischen Erdöl ging es um einen Korridor zu einem neuen Verbündeten: die türkische Nationalbewegung um Mustafa Kemal (später Kemal Atatürk), die gegen die Siegermächte des Ersten Weltkrieges, die Entente, aber auch gegen die osmanische Sultan-Regierung in Konstantinopel kämpfte. Die Kräfte der Entente wurden durch die Kampfhandlungen in der Türkei an einer weiteren Einmischung in den Russischen Bürgerkrieg auf Seite der Gegner der Bolschewiki gehindert. In Moskau versprach man sich vom Sieg der Kemalisten neue antikoloniale Impulse, sah sich aber mit neuen Dilemmata konfrontiert.
Vielerlei Nationalismen
Die drei neuen transkaukasischen Staaten – Georgien, Armenien und Aserbaidschan – bekriegten sich ständig. Einbezogen wurden auch Minderheiten wie die der Kurd*innen. Anerkannte Grenzen existierten indes kaum. Nun aber sollten die dank der XI. Armee entstehenden sozialistischen Sowjetrepubliken Frieden miteinander schließen und sich auf einen Grenzverlauf einigen. Kompliziert wurde die Situation noch durch die unterschiedlichen Haltungen der transkaukasischen Staaten zu den Konflikten in der Türkei und Russland. Während Armenien sich eng an die Entente und die konterrevolutionären »Weißen« anlehnte, verdankte Aserbaidschan seine Unabhängigkeit der osmanischen Armee und musste sich nun im innertürkischen Konflikt positionieren.
Am 10. August 1920 unterschrieb die Sultan-Regierung mit der Entente den Vertrag von Sèvres. Nach dem Schiedsspruch des US-Präsidenten Woodrow Wilson wurden dem unabhängigen Armenien große Teile des ehemaligen Osmanischen Reiches zugeschlagen. Die Kemalisten weigerten sich, den Vertrag anzuerkennen. Von jeglicher äußeren Unterstützung abgeschnitten und von Kriegen mit allen Nachbarn erschüttert, erklärte Armenien unter der linksnationalistischen Regierung der Daschnakzutjun-Partei am 25. September der Türkei den Krieg und versuchte vergeblich, die versprochenen Gebiete unter Kontrolle zu bringen. Bereits im Dezember standen nationaltürkische Truppen vor der armenischen Hautstadt Jerewan. Die Daschnakzutjun-Regierung musste im Frieden von Alexandropol große Gebiete an die Türkei abtreten und faktisch die eigene Souveränität aufgeben. Doch am 2. Dezember, dem Tag der Vertragsunterzeichnung, ergriff in Armenien das bolschewistische Revolutionskomitee die Macht und erklärte den Vertrag sofort für nichtig. Armenien verlor de facto die Unabhängigkeit, wurde jedoch vor türkischer Besatzung bewahrt, während sich die nationaltürkische Regierung nun von Moskau brüskiert zeigte. Dass Armenien von roten Truppen besetzt wurde, teilweise bestehend aus ehemaligen Armeeangehörigen des unabhängigen Aserbaidschans, die Sympathien für die Türkei hegten, machte die Situation zusätzlich kompliziert. Lenins These, dass der Nationalismus der Unterdrückten anders zu behandeln sei als der der Unterdrücker, sorgte für Streit zwischen armenischen und aserbaidschanischen Bolschewiki, wer unter der zaristischen Kolonisation mehr gelitten habe.
Die kurdische Autonomie sollte vor allem als Puffer zwischen armenischen und aserbaidschanischen Nationalismen fungieren.
Unter diesen Umständen versuchte Moskau, die Kemalisten mit Geld und Waffen für den weiteren Kampf gegen die Entente für sich zu gewinnen, sie jedoch von expansiven Plänen in Transkaukasien abzubringen. Das Streben der armenischen, griechischen, kurdischen Minderheiten des Osmanischen Reiches nach Unabhängigkeit wurden für reaktionär erklärt, pantürkistischen Projekten jedoch ein Riegel vorgeschoben. Allen Versuchen der türkischen Seite, sich mit Aserbaidschan zu vereinigen oder sich Gebiete des Sowjetarmeniens einzuverleiben, wurde eine Absage erteilt.
Nach den Friedensverträgen von Moskau (16. März 1921) und Kars (13. Oktober 1921) erhielt die Türkei die Kars-Ardahan-Region des ehemaligen Russischen Reiches, gab die besetzte Hafenstadt Batum an das inzwischen sowjetisierete Georgien ab und verzichtete auf weitere Punkte des Alexandropol-Vertrages. Besonders heikel blieb jedoch die Frage nach dem Status der seit Längerem zwischen Armeniern und Aserbaidschanern umstrittenen Gebiete Nachitschewan, Bergkarabach und Sangesur. In den vergangenen Jahren hatte dort ein permanenter ethnischer Krieg geherrscht. Die kemalistische Türkei sah sich nach wie vor als Verbündete des sowjetischen Aserbaidschans gegen das ebenso sowjetische Armenien und bestand auf einer gemeinsamen Grenze mit ihm. Innerhalb der bolschewistischen Führung gab es keinen Konsens über den Umgang mit den Territorialansprüchen. Nachdem noch im Juni 1921 der Verbleib Bergkarabachs bei Armenien beschlossen worden war, änderte sich in Juli die Situation. Nachitschewan und Bergkarabach gingen an Aserbaidschan und erhielten jeweils den Status einer autonomen Republik bzw. eines autonomen Gebietes, Sangesur ging an Armenien. Damit war Nachitschewan durch Sangesur vom Rest Aserbaidschans getrennt, während Bergkarabach, das eine rein armenische Parteiführung erhielt, eine Enklave bildete.
Keine Fanalwirkung
Die nicht aufhörenden Rivalitäten führten zur Überlegung seitens der Bolschewiki, ein weiteres autonomes Gebilde auf dem Gebiet Aserbaidschans zu gründen. In der Region Latschin, die Bergkarabach und Sangesur voneinander trennte, wurde am 16. Juli 1923 der autonome kurdische Distrikt (Ujezd) gegründet. Bis heute ist umstritten, welchen Anteil Kurd*innen von der etwas über 51.000 zählenden Bevölkerung der ca. 1.883 Quadratkilometer umfassenden Region real bildeten. Nach mehreren Schätzungen waren es 73 Prozent, allerdings war die Bevölkerungserfassung aufgrund der teilweise nomadischen Lebensweise von Kurd*innen und Aserbaidschaner*innen erschwert. Die Schaffung des »Roten Kurdistans« fand zu der Zeit statt, als die Bolschewiki kurdische Aufstände in der Türkei als »feudal« und »proimperialistisch« verurteilten. Jede Schwächung des kemalistischen Projekts, zumal im Namen von vorbürgerlichen Traditionen würde den Kolonialmächten der Entente in die Hände spielen, so die damalige bolschewistische Haltung.
Die Entstehung des ersten kurdischen politischen Gebildes in der neuesten Geschichte hat zwar die türkischen Bündnispartner nicht erfreut, war aber auch kein Fanal. Im Unterschied zu den Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen bildeten die Kurd*innen auf dem Gebiet des ehemaligen Russischen Reiches keine eigene nationale Bewegung und brachten noch keine Schicht von gebildeten »nationalen Kadern« hervor. Es fehlte sogar an Lehrkräften, die in der Muttersprache unterrichten konnten. Die kurdische Autonomie sollte vor allem als Puffer zwischen armenischen und aserbaidschanischen Nationalismen fungieren. Die Alphabetisierung in eigener Sprache erwies sich, wie der Historiker Jörg Baberowski in seiner Studie zum Stalinismus im Kaukasus ausführt, für die Kurd*innen wie für viele andere kleine Minderheiten als ein Bärendienst, da dadurch die soziale Mobilität verringert wurde.(1) Für erfolgreiche Karrieren waren Kenntnisse des Russischen und zunehmend auch des Aserbaidschanischen erforderlich. 1926 betrachteten lediglich 17 Prozent der rund 41.200 in Aserbaidschan lebenden Kurd*innen einen der kurdischen Dialekte als ihre Muttersprache an. (2)
Während seiner kurzen Existenz blieb das »Rote Kurdistan« eine schwach entwickelte Region. 1929 wurde aus dem Distrikt ein »Nationalkreis«, ein Jahr später wurde die Autonomie komplett aufgehoben. Weiter erschien jedoch die kurdische Zeitung »Sura Kurdistan« in aserbaidschanischer Sprache. 1937 wurde die kurdische Bevölkerung auf dem Gebiet der ehemaligen Autonomie nach Zentralasien deportiert. Nach Stalins Tod kehrten viele Kurd*innen nach Transkaukasien zurück, aber nun war in Aserbaidschan jegliche Erinnerung an die kurdische Identität verschwunden und die Geschichte der Latschin-Autonomie gründlich vergessen. Der Aktivist der Demokratischen Partei Kurdistans, Ismet Cherif Vanly (1924-2011), der die Sowjetunion bereiste, erhielt derartig spärliche Informationen über die ehemalige kurdische Autonomie, dass er sie in seinen Büchern geografisch falsch in Nachitschewan verordnete.(3) Dabei bildeten Kurd*innen noch 1989 rund 20 Prozent der Bevölkerung der Stadt Latschin. Der armenisch-aserbaidschanische Krieg (1992-94) beendete jedoch deren Präsenz in der Region. Die Region fiel unter Kontrolle der armenischen Truppen und verbindet heute Armenien mit der nicht anerkannten Republik Bergkarabach.
Anmerkungen:
1) Jörg Baberowski: Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus. München 2003, S. 343.
2) David McDowall: A modern history of the Kurds. I.B.Tauris 2004, S. 192.
3) Ismet Chérif Vanly: Kurdistan und die Kurden. Bd. 3. Göttingen 1988, S. 44.