(Un)Tot oder lebendig!
In Raul Zeliks Sozialismus-Essay hängt alles mit allem zusammen. Das liest sich sehr gut, manches bleibt aber auf der Strecke
Von Nelli Tügel
Dass ein Epochenbruch und der nur Barbarei oder Sozialismus erlaubende Todeskampf des Kapitalismus ins Haus stehen, ist nicht gerade eine seltene These in der linken Literatur. Doch oft Prognostiziertes kann sich ja irgendwann auch mal als zutreffend erweisen. Und deshalb sollte man sich keinesfalls davon abschrecken lassen, dass eben jene eher unoriginelle Behauptung – wir stünden vor einem Epochenbruch – die Ausgangsthese des Suhrkamp-Langessays »Wir Untoten des Kapitals – Über politische Monster und einen grünen Sozialismus« von Raul Zelik ist. Die harten Fakten geben ihm Recht: Klimawandel, globale Ungleichheiten, soziale Ungerechtigkeit, Rassismus und das Phänomen der Illiberalisierung bürgerlicher Demokratien erfordern Veränderungen, denen allerdings die Zwänge der kapitalistischen Produktionsweise entgegenstehen. Weshalb ein absurder Widerspruch zwischen dem, was notwendig und gut wäre, und dem, was ist, unser Leben bestimmt. Hier kommt das Bild des Zombies, der sich ausbreitenden »Zombification« ins Spiel: Verblödet, ungelenk und fremdgesteuert »wandeln wir durch unsere Welt und sorgen dafür, den Absatz von Waren sicherzustellen«, schreibt Zelik. Wider besseres Wissens und unter Absehung der eigenen Bedürfnisse, denn nur solche Bedürfnisse, die mit dem Kapitalismus vereinbar sind, könnten berücksichtigt werden. »Und so fühlen wir uns immer häufiger als seelenlose Avatare, als Darsteller eines Films«, mit dessen Drehbuch wir nichts zu tun haben.
Mit durchaus beeindruckender Leichtigkeit verbindet Zelik von dieser Einführung ausgehend Popkultur, Theorie, linke Geschichte, Gegenwart, Ökonomie und Zukunft miteinander zu einem sehr gut lesbaren Essay, der weder in Kitsch noch Zynismus abgleitet und stattdessen einen robusten Grundoptimismus verbreitet. Da es aber in der Natur des Themas liegt, dass alles mit allem zusammenhängt (und zwar global), werden manche Fragen so schnell aufgetischt und wieder abgeräumt, dass man kaum mitkommt. Etwa, wenn Zelik nachvollzieht, wie Sowjetrussland und die spätere Sowjetunion unter dem Druck des Bürgerkrieges vom ersten Tag an improvisieren mussten – und die sozialistischen Revolutionen in Westeuropa, allen voran Deutschland, anders als von den russischen Revolutionär*innen erwartet und erhofft, ausblieben. Alles, was danach geschah, hat damit zu tun. Doch erfahren wir nicht, weshalb denn eigentlich die deutsche Novemberrevolution in der Gründung der Weimarer Republik stecken blieb. Während man noch diesem Gedanken nachhängt, hat Zelik bereits Maos China und Titos Jugoslawien passiert (ähnlich atemberaubend schnell arbeitet er sich durch eine Reihe von Theorien und Literatur).
Wie zur Macht gelangen, wenn der Staatsapparat der Linken nicht gehorcht?
Alle drei Gesellschaftsexperimente werden einer notwendigen und doch nie wohlfeilen Kritik unterzogen – Zelik macht keinen Hehl daraus, dass der Sozialismus, der ihm vorschwebt, nirgendwo verwirklicht wurde. Und doch bleiben es die alle »gescheiterten« Sozialismus-Versuche, bei denen es gelang, sich die Produktionsmittel und den Staatsapparat anzueignen. Dies als Dreh- und Angelpunkt jeden Nachdenkens über eine andere Gesellschaft zu erkennen, ist keine dogmatische Verbissenheit, sondern pragmatisch. Denn wie uns unter anderem die Linkspartei immer wieder demonstriert, reichen parlamentarische Mehrheiten oder Regierungsbeteiligungen nicht aus, um auch nur kleinste Veränderungen zugunsten der Mehrheit und zulasten der Kapitalbesitzenden zu bewirken.
Dafür hat Raul Zelik eine (auch nicht ganz neue) Erklärung parat: An der Regierung sein ist nicht gleichbedeutet mit Macht. Linksregierungen – etwa jene unter Mitterand im Frankreich der 1980er Jahre oder die inzwischen wieder abgewählte Syriza-Regierung in Griechenland – hätten, so der Autor, unter anderem dem enormen Druck von Kapitalbesitzern nachgegeben, weil sie »ganz einfach nicht die Macht« besaßen, »um linke Reformen durchzusetzen«. Auch hier bleibt die logische Folgefrage zunächst unbeantwortet: Wie lässt es sich dann zu dieser notwendigen »Macht« gelangen, wenn jedes Reförmchen am Widerstand der Reichen scheitert und der Staatsapparat Linken nicht gehorcht?
Auf diese Frage kommt Zelik immer wieder zurück, vertieft im letzten Kapitel des Buches – die Antworten allerdings, die er mit Bezug auf andere Theoretiker*innen umreißt, bleiben etwas blass: Bewegung, Selbstbefreiung und die prozesshafte Abschaffung des Kapitalismus, die der »Kommodifizierung des Lebens auf vielen Ebenen gleichzeitig entgegenwirkt«, alle bisherigen Transformationsansätze miteinander verschränken (wie gesagt: Alles hängt mit allem zusammen), Hegemonie usw. klingen zwar schön, aber auch verwaschen und voluntaristisch – wie häufig bei jenen neogramscianischen Autor*innen, die in den vergangenen Jahren ja bereits Tausende von Seiten über »Transformation« geschrieben haben. Auch das hundertste Poulantzas-Exzerpt, der Staat sei als Verdichtung von Kräfteverhältnissen zu verstehen, und der zigste Verweis auf nötige Verbindungen von »staatlicher und außerinstitutioneller Politik« lassen Staats- und Machtfragen noch keineswegs auserklärt erscheinen.
Wo der Weg aus der zombifizierten Gegenwart in die befreite (oder auch nur in eine halbwegs menschenwürdige) Zukunft also auch bei Zelik vage bleibt – trotz des Bemühens, konkreter Heute-und-Hier-Forderungen als Teil eines Green New Deal zu präsentieren (lesenswert!) –, sind doch die Zuversicht, dass es nicht bleiben muss, wie es ist, und das Urvertrauen in die im guten Sinne reformerische Kraft von Bewegungen die großen Stärken des Buches. Unerwähnt bleibt bei der popkulturellen Rahmung die beste aller zeitgenössischen Serien über Untote: Der grelle Vampir-Trash True Blood. Doch diese Lücke lässt sich noch am ehesten verschmerzen.
Raul Zelik: Wir Untoten des Kapitals – Über politische Monster und einen grünen Sozialismus. Suhrkamp, Berlin 2020. 328 Seiten, 18 EUR.