Erschossen von deutschen Polizisten
Der Tod von Aman A. wirft bis heute Fragen auf. Dennoch wurden die Ermittlungen eingestellt*
Von Helene Buchholz
Am 17. August 2019 wird Aman A. in Stade von der Polizei erschossen. Die Staatsanwaltschaft hat inzwischen ihre Ermittlungen gegen den Polizisten eingestellt, es soll also nicht zu einem Prozess gegen den Schützen kommen. Aber für viele wirft der Tod des jungen Geflüchteten Fragen auf, die so nie beantwortet werden können.
»Mit Black Lives Matter hat das nichts zu tun, die Polizei hier fragt nicht nach Hautfarbe oder Herkunft. Es geht nur darum, ob der andere gefährlich ist oder nicht«, sagt Staatsanwalt Kai Thomas Breas, ohne dass ich ihn darauf angesprochen hätte. Empört fügt er hinzu: »In der Stadt gibt es ein riesiges Graffiti mit dem Namen des Betroffenen und dann steht da noch: Erschossen von deutschen Polizisten«. Breas wartet auf eine Reaktion von mir. Dabei ist Aman A. von der Polizei erschossen worden, daran gibt es keine Zweifel. Niemand bestreitet das. Auf dem Wandgemälde stand nicht »ermordet« oder ähnliches. Und trotzdem scheint es nicht nur den Oberstaatsanwalt zu ärgern. Als ich zwei Tage später ein Foto davon machen will, ist Amans Name noch da, aber das »erschossen von deutschen Polizisten« ist verschwunden. Nicht übergemalt, nicht kommentiert, sondern fein säuberlich entfernt. An der Wand hängt ein Schild auf dem steht »Legal Wall – diese Wand ist ein Freiraum für alle kreativen Köpfe in und um Stade«. Das Graffiti war also nicht illegal. Als ich bei der Stadt nachfrage, ob die Behörden den Zusatz entfernt haben, heißt es: »Ja, das haben wir in Auftrag gegeben. Das wurde mitentfernt, weil im räumlichen und textlichen Umfeld »ermordet« von deutschen Polizisten stand.« Es seien also Graffiti drumherum gewesen, die das Wort »ermordet« beinhaltet hätten, da haben sie »erschossen« gleich mit entfernen lassen. Aber auch die textliche Nähe »ermordet – erschossen« sei ein Problem gewesen, sagt mir der Sprecher. »Das Konterfei des Betroffenen und alles andere haben wir natürlich gelassen.«
Harte Bedingungen
Schon diese Geschichte zeigt, wie aufgeladen das Thema ist. Gemalt haben das Graffiti junge Leute aus der Umgebung, Freunde von Aman. Afghanen, die wie er 2015 als minderjährige, unbegleitete Geflüchtete nach Deutschland gekommen sind. Aman war damals 15 Jahre alt, lange wohnte er in einer Massenunterkunft – einer alten Turnhalle – mit Dutzenden anderen jungen Männern. Eine Betreuerin aus dieser Zeit ist bereit mit mir über ihn zu sprechen. »Aman war sehr intelligent«, sagt Christiane Meisner**. »Er hat immer mit allen Hausaufgaben gemacht, nach drei Monaten konnte er fließend Deutsch sprechen. Später hat er als erster von allen einen Ausbildungsplatz gefunden.« Die Bedingungen in der Halle seien hart gewesen, berichtet sie, es gab nur Sichtschutzwände. Wenn das Licht an ging, war es überall hell. Hat sich einer im Bett umgedreht, waren alle 60 Bewohner wach. Einige von ihnen hätten bis zu drei Jahre hier gewohnt.
Sein Leben scheint sich zu ordnen: Er macht eine Lehre als Tischler, spricht deutsch, hat ein Dach über dem Kopf, macht gerne Sport und hat Freunde gefunden.
Als Aman 18 Jahre alt ist, zieht er in eine Folgeunterkunft, wie auch einige seiner Freunde. Hier haben sie kleinere Zimmer mit Gemeinschaftsbad und -Küche. Aman ist alleine in einem Zimmer. Sein Leben scheint sich zu ordnen: Er macht eine Lehre als Tischler, spricht deutsch, hat ein Dach über dem Kopf, macht gerne Sport und hat Freunde gefunden. Aber jetzt, so berichtet es Meisner, kommen seine Psychosen. Nicht untypisch, urteilt die gelernte Psychologin: »Wenn sich das ganze Chaos legt, kommen die Traumata durch, die viele der jungen Männer aus Kriegsgebieten erlitten haben. Auch auf der Flucht selbst machen viele traumatische Erfahrungen.«
Aman fängt an laut zu singen, viel zu reden, er ist aufgekratzt und seine Mitbewohner und Freunde erleben ihn als überdreht, sagt die ehemalige Betreuerin. Und irgendwann sei der Punkt gekommen, an dem er in eine Psychiatrie gekommen sei. Sie selbst habe zu der Zeit nur noch sporadisch zu ihm Kontakt gehabt. Die meisten hätten nicht gewusst, wie schlecht es ihm wirklich ging, sagt sie. Außerdem war er inzwischen volljährig und wurde nicht mehr betreut. Aman bekommt starke Medikamente, die ihn betäuben. Besser sei es ihm damit aber nicht gegangen, berichtet Meisner. Deshalb habe er entschieden, weniger zu nehmen. Endlich habe er wieder aufstehen und essen können, auch konnte er wieder Sport machen. Aber mit seiner körperlichen Kraft seien auch seine Psychosen zurückgekommen.
Angst um Aman
Ahmad Khan** war mit Aman befreundet. Und er ist der beste Freund von dem, der am 17. August 2019 die Polizei gerufen hat, sagt er. Khan gehört auch zu der Gruppe der jungen Afghanen in Stade. Der 17. August hat für sie alles verändert, sagt er, als ich ihn treffe. »Ich erkenne meinen Freund nicht wieder. Er isst nicht, er schläft nicht – er fühlt sich schuldig. Dabei hat er keinen Fehler gemacht!«, sagt Khan. Sowohl Christiane Meisner als auch Ahmad Khan waren am 17. August nicht dabei. Aber sie hätten viele Gespräche mit Amans Mitbewohnern geführt. Sie beschreiben den Tag wie folgt: Aman sei erstmal gut drauf gewesen. Er war fit, konnte rausgehen, essen und mit seinen Freunden kochen. Doch dann schlug seine Stimmung um und er schloss sich in seinem Zimmer ein. Er sei laut gewesen, habe geflucht und vermutlich auch Sachen kaputt geschmissen. Als seine Freunde nicht weiter wussten, riefen sie die Polizei, sagt Khan. Sie hätten Angst gehabt, ja. Angst um Aman, Angst, dass »etwas« passiert. Aber er habe niemanden direkt bedroht. Und dann wählt einer der jungen Männer die Nummer der Polizei. Danach habe er keinen Einfluss mehr auf das Geschehen nehmen können, so Khan.
»Wen sollen wir anrufen? Er hat hier keine Eltern. Wir haben hier keine Eltern. Wen sollen wir bei sowas um Hilfe bitten? Wir haben immer gedacht, die Deutsche Polizei ist die beste Polizei der Welt.« Khan stellt sich diese Fragen nicht nur rückwirkend. Denn jetzt macht er sich Sorgen um seinen Freund, der damals die Polizei verständigte. Er zeige Anzeichen von Depressionen. Er habe sich verändert. Aber die Polizei werde er sicher nicht nochmal um Hilfe bitten, sagt er.
Die Staatsanwaltschaft erzählt den Hergang des Geschehens am 17. August anders: Ein türkischer Mitbewohner habe die Polizei gerufen, weil er von Aman bedroht worden sei. »Ich will alle Türken umbringen« soll er gesagt haben. Denn Aman habe eine türkische Freundin gehabt, die dann von ihrem Vater zwangsverheiratet worden sei. Deshalb habe Aman nicht mehr mit ihr zusammen sein können und Hass auf alle Türken gehabt. Der Mann, der laut Staatsanwaltschaft die Polizei gerufen hat, habe noch gezittert vor Angst, als die Beamten eintrafen, sagt Oberstaatsanwalt Breas.
Können vier Beamte einen jungen Mann mit einer Hantelstange nicht anders unter Kontrolle bringen, als mit fünf Schüssen?
Die türkische Freundin habe es wirklich gegeben, sagen auch Khan und Meisner. Auch dass ihr Vater gegen die Beziehung gewesen sei, stimmt. Möglich sei, dass er in seinem Wahn etwas wie »Ich bringe alle Türken um« gesagt hat, aber eine konkrete Person habe er damit nicht bedroht. Türken hätten zu der Zeit auch gar nicht in der Unterkunft gewohnt, sagen sie.
An besagtem 17. August kommt die Polizei mit zwei Streifenwagen, zwei Männern und zwei Frauen. Der Mitbewohner steht draußen, darf jetzt nicht mehr ins Haus und wird auf eine Bushaltestelle ein paar Meter weiter verwiesen, sagt Khan. Und dann, plötzlich hört der junge Mann Schüsse. Später wird sich herausstellen, dass der Polizist fünf mal auf Aman geschossen hat. Aman hatte kein Messer, keine Pistole. Mit einer Hantelstange sei er auf die Beamten losgegangen.
Ralf Poppe ist ehemaliger Polizist und Sprecher des Stader Kreisverbandes der Grünen. Er fragt sich, wieso die Polizisten*innen nicht mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst gekommen sind. »Es war bekannt, dass Aman psychische Probleme hatte. Auch bei der Polizei. Warum haben die Beamten überhaupt seine Zimmertür eingetreten? Er war zu dem Zeitpunkt alleine in seinem Zimmer. Er war also keine Bedrohung für irgendjemanden. Und vor allem: Können vier Beamte einen jungen Mann mit einer Hantelstange nicht anders unter Kontrolle bringen, als mit fünf Schüssen?« Dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt hat, kann Poppe nicht verstehen. »Selbst wenn ich am Ende verstehen kann, warum der Polizist in dem Moment so gehandelt hat, so ist doch eine Gerichtsverhandlung notwendig. Es stellen sich so viele Fragen – die Behörden tun sich doch so selbst keinen Gefallen.«
Oberstaatsanwalt Breas sieht das anders: »Es war glasklare Notwehr. Dann können wir gar nicht weiter ermitteln. Der Beamte hat richtig gehandelt: Zuerst hat er versucht mit Pfefferspray auf ihn einzuwirken, aber das hat nicht funktioniert. Der Betroffene hat förmlich in dem Pfefferspray gebadet. Das hat ihm überhaupt nichts ausgemacht. Und dann ist er mit dieser Hantelstange auf die Polizisten losgegangen. Damit hätte er ihnen erhebliche Verletzungen zufügen können. Und wenn ein Polizist einmal eine Waffe zieht, dann sollte er sie so lange benutzen, bis er den Angreifer effektiv außer Gefecht gesetzt hat.« Warum die Beamt*innen nicht den Sozialpsychiatrischen Dienst hinzugezogen haben, warum sie die Situation weiter haben eskalieren lassen, in dem sie die Tür eintreten, sei nicht Teil der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, so Breas: »Wir beurteilen nur die unmittelbare Situation. Nicht das, was davor passiert ist, also ob die Beamten anders hätten vorgehen können.«
Amans Bruder lebt in Australien. Per Skype sagt Rahmat mir: »Ich will Gerechtigkeit. Nicht nur für Aman, auch für alle anderen, für die Zukunft. Ich will, dass sowas nie wieder passiert. Aman ist nach Deutschland gekommen, weil er sicher sein wollte. Und jetzt ist er tot, von der Polizei erschossen.« Sein Anwalt hat noch ganz andere Fragen, als Ralf Poppe: Es gebe ein Gutachten, das besage, dass Aman am Boden gelegen habe, als die Schüsse fielen. Auch deshalb hat Rahmats Anwalt Beschwerde eingelegt. Die Staatsanwaltschaft muss nun erneut prüfen, ob es doch noch zu einem Gerichtsverfahren kommt.
Polizeiliche Protokolle
Oberstaatsanwalt Breas ärgert sich über diese Interpretation des Gutachtens: »Da steht nicht, dass er am Boden gelegen hat. In dem Gutachten steht nur, dass der Einschusswinkel so ist, dass die Kugeln von oben nach unten in den Körper eingedrungen sind. Er kann aber auch gestanden haben. Es kann auch andere Gründe geben, warum der Einschusswinkel so ist, denn alle Beteiligten haben sich ja bewegt in der Situation.«
Christiane Meisner, Amans ehemalige Betreuerin, sagt »Wenn man jetzt mal Strukturen wie Hautfarbe, Staatsangehörigkeit oder Aufenthaltsstatus in der Interpretation außen vor lässt, muss man auch sehen, dass polizeiliche Protokolle nicht mit psychischen Erkrankungen funktionieren. Wenn zum Beispiel die Polizei sagt »leg dich auf den Boden«, dann kann das jemand der psychotisch ist, nicht. Da fehlt einfach die nötige Sensibilität.« Auch deshalb ist die Frage, ob die Beamt*innen einen Sozialpsychiatrischen Dienst hätten mitnehmen können und müssen so zentral.
Und so gibt es in diesem Fall noch eine Menge offener Fragen. Ein Gerichtsverfahren könnte zumindest an einigen Punkten Licht ins Dunkel bringen.
* Mittlerweile ist bekannt geworden, dass die Staatsanwaltschaft Stade den Fall nochmal überprüfen muss: Die Generalstaatsanwaltschaft Celle hat selbige dazu angewiesen, weiter zu ermitteln. Nachdem der Anwalt des Bruders von Aman A. Beschwerde eingelegt hatte, war der Fall dort gelandet. Und die Generalstaatsanwaltschaft in Celle sagt, es gebe »weitere, erfolgversprechende Ermittlungsansätze«, denen die Staatsanwaltschaft Stade noch nicht nachgegangen sei. Welche das konkret sind, wird aus ermittlungstaktischen Gründen nicht veröffentlicht. Ob es nun doch noch zu einer Anklage gegen den Polizisten kommt, bleibt weiter offen.
** Namen von der Redaktion geändert.