Börse und Krise
Von Stephan Kaufmann
Die Wirtschaft in den kapitalistischen Zentren erlebt derzeit die schwerste Krise seit Jahrzehnten. Gleichzeitig geht es mit den Börsenkursen flott bergauf, womit sich die Frage stellt, ob die Aktienspekulanten komplett verrückt geworden sind. Verrückt mag ihr Treiben sein. Doch nicht ohne Logik. Und nach der geht es mit Aktien derzeit aufwärts, gerade weil die Aussichten so mau sind.
Im zweiten Quartal dieses Jahres ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland um zehn Prozent gefallen, Frankreich und die USA kommen auf ähnliche Werte, Italien und Spanien liegen deutlich darüber. »Dieser Einbruch ist nicht nur historisch hoch, das BIP befindet sich nun sogar nur noch auf dem Niveau des Jahres 2005«, erklärt die DZ Bank. »15 Jahre Konjunkturgeschehen wurden innerhalb von nur zwei Quartalen zurückgesetzt.« Selbst die Profis des Gewerbes sind beeindruckt von der Zerstörungskraft, die der kapitalistischen Wirtschaft innewohnt.
Die Kurse an den Aktienmärkten dagegen haben sich, nach einem schnellen Einbruch zu Beginn der Corona-Pandemie, wieder erholt. Der US-Börsenindex S&P 500 ist von Ende März bis Anfang August um 50 Prozent gestiegen, der europäische EuroStoxx 50 um mehr als 35 Prozent. Obwohl die Unternehmensgewinne derzeit um 30 bis 60 Prozent einbrechen, nähern sich die Börsenkurse vielfach schon wieder ihren alten Rekordhochs an. »Wie kann es sein, dass die Aktienmärkte trotz steigender Covid-19-Infektionszahlen zu neuen Gipfelstürmen ansetzen?«, fragt sich die Deutsche-Bank-Investmenttochter DWS.
Nun könnte man argumentieren, an den Börsen werde ohnehin nur »die Zukunft« gehandelt, sie spekulierten also auf einen Aufschwung nach der Krise. »Für Märkte scheinen nicht die Zahl der Erkrankten, sondern die wirtschaftlichen Aussichten relevant zu sein«, merkt die DWS an. Doch noch ist gar nicht klar, ob es zu einer zweiten Coronawelle kommen wird, ob weitere Lockdowns nötig sein werden und ob überhaupt die globale Konjunktur diese Krise auf Dauer einfach so wegsteckt. Einige Aktienanalyst*innen erwarten zwar eine weitere Erholung der Wirtschaft – niemand jedoch erwartet einen Boom, der Börsenrekorde rechtfertigen würde.
Einen Teil des Aktienaufschwungs – zumindest in den USA – erklärt das große Gewicht, dass die Tech-Konzerne Facebook, Amazon, Apple, Microsoft und Alphabet (Google) in den Aktienindizes haben. Die Geschäfte dieser Konzerne laufen trotz – oder wegen – der Pandemie blendend. Dementsprechend steigen die Aktienkurse dieser fünf Unternehmen. Das macht ihre Haupteigner zu den reichsten Menschen der Welt und zieht die Aktienindizes nach oben, obwohl die Kurse der meisten anderen Aktien eher schwach sind.
Hauptgrund für den Börsenaufschwung sind jedoch die niedrigen Zinsen.
Hauptgrund für den Börsenaufschwung sind jedoch die niedrigen Zinsen. Was heißt das? Finanzanleger bewerten sämtliche Investments – Aktien, Anleihen und andere – im Vergleich zueinander. Wenn Anleihen geringe Zinsen bringen, werden Aktien spiegelbildlich mehr wert. Ein stark vereinfachtes Beispiel: Eine Staatsanleihe bringt fünf Prozent pro Jahr, also fünf Euro auf einen Einsatz von 100 Euro. Wenn eine Aktie nun eine Dividende von zehn Euro bringt, so ist sie aus Anlegersicht 200 Euro wert. Warum? Weil man 200 Euro in Staatsanleihen investieren müsste, um einen Ertrag von zehn Euro zu bekommen.
Weiter im Beispiel: Wenn der Zins der Staatsanleihe nun auf ein Prozent fällt, also auf einen Euro pro 100 Euro, und wenn die Aktie weiter eine Dividende von zehn Euro bringt, so ist die Aktie mit einem Schlag 1000 Euro wert. Denn relativ zur Anleihe hat sich ihr Ertrag vervielfacht.
Anhand dieses vereinfachten Beispiels kann man sich vorstellen, was passiert, wenn die Zinsen wie derzeit auf nahe null Prozent fallen: Da Anleihen als Renditevehikel nichts mehr bringen, explodiert der »Wert« der Aktien, auch wenn die Gewinne sinken. Vor allem, wenn man »die Zukunft« handelt: Während die Zinsen noch auf Jahre hinaus unten bleiben werden, gibt es bei den Unternehmen Hoffnung auf Erholung, also auf steigende Gewinne. »Vor diesem Hintergrund gibt es also durchaus noch Luft bei der Bewertung von Aktien«, erklärt die DWS.
Aktien steigen also, weil Anleihen nichts mehr bringen. Anleihen bringen nichts, weil die Zentralbanken mit Billionen Anleihen am Markt aufkaufen und dadurch die Zinsen drücken. Das tun die Zentralbanken, um ihren Regierungen die massenhafte Schuldenaufnahme zur Bekämpfung der Krise zu ermöglichen. Kurz: Abgesehen von den Verrücktheiten der Aktienspekulation ist die Krise selbst die solide Grundlage für den Börsenboom.