Impfstoff-Nationalismus tötet
Von Andreas Wulf
Die russische Regierung spielt auf volles Risiko. Der erste national zugelassene Impfstoff gegen das Coronavirus hat sofort heftige internationale Kritik geerntet, da keinerlei transparente Daten öffentlich gemacht wurden und die relevante Phase 3 der Entwicklung gerade erst begonnen hat. Zugleich stehen schon Länder Schlange, die den Impfstoff testen und einsetzen wollen: Der philippinische Präsident Duterte will es vormachen. Wenn er bei ihm wirke, so Duterte, dann sei er auch gut fürs ganze Land.
Dies kann als Kontrapunkt gelten zum kurzen »Frühling der Solidarität«, als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Europäische Kommission am 4. Mai mit großer Fanfare zum gemeinsamen globalen Fundraising für den Kampf gegen das Coronavirus aufriefen. Bis jetzt sind beeindruckende 15,9 Milliarden Euro zusammengekommen. In Erinnerung blieb das Event aber auch, weil Emmanuel Macron und Angela Merkel dort zum ersten Mal den Coronavirus-Impfstoff zum »globalen öffentlichen Gut« deklarierten. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte, dass »Regierungen und globale Gesundheitsorganisationen im Kampf gegen das Coronavirus an einem Strang ziehen«.
Solidarität wurde groß geschrieben – auch um zu verhindern, dass es wie im Jahr 2009 bei der H1N1-Grippe-Pandemie zu einem Wettrennen der zahlungskräftigen Länder um den Impfstoff kommt, und den ärmeren Ländern nur ein paar »humanitäre Reste« bleiben, die dann von der WHO verteilt werden können. Die WHO hatte wenige Tage zuvor mit ihrem »Access to COVID-19 Tools (ACT) Accelerator« eine ambitionierte Struktur vorgestellt, in deren Rahmen die Erforschung des Virus und eines möglichen Impfstoffes beschleunigt und koordiniert werden sollte.
Doch schon Anfang April war vor allem die US-Regierung ausgeschert und hatte mit ihrer zehn Milliarden US-Dollar schweren Operation Warp Speed ein konkurrierendes Impfstoffprogramm für die einheimischen Pharmaunternehmen angeworfen. Aber auch die indische, chinesische oder russische Regierung halten sich bei der Accelerator Initiative bislang auffallend zurück, obwohl die indischen Impfstoffhersteller für den Globalen Süden die bislang wichtigsten Impfstoff-Produzenten und obgleich die russische und chinesische Forschung wesentliche Akteure im globalen Rennen um wirksame Impfstoffe sind.
Als Zeichen der globalen Solidarität sollen dann auch die am wenigsten finanzkräftigen Länder mit Mitteln aus den globalen und nationalen Entwicklungsbudgets in der Impfstoffbeschaffung unterstützt werden. Bislang fehlen dafür aber noch jegliche Zusagen, und unter den 75 Ländern, die Interesse bekundet haben, sich daran zu beteiligen, fehlen bis auf Japan die großen, finanzstarken Länder mit eigenen Impfstoffproduktionskapazitäten.
Deutlich wird, wie sehr mit jeder erfolgversprechenden Ankündigung eines Impfstoffs die Fassade der globalen Solidarität weiter bröckelt. Auch weil immer klarer wird, dass die Produktionskapazitäten für einen global verfügbaren Impfstoff begrenzt sind. Nicht nur die USA, auch die Inklusive Impfstoff Allianz aus Deutschland, Frankreich, Italien und den Niederlanden machte ihre eigenen Deals mit Pharmaunternehmen um Abnahmegarantien und Liefermengen bei erfolgreichen Impfstoffkandidaten. Auch die EU-Kommission mischt ordentlich mit. Von der Leyen und andere Politiker*innen sprechen zwar gerne davon, »dass niemand sicher ist bis alle sicher sind«, doch wenn es darum geht, möglichst rasch aus der sozialen und wirtschaftlichen Krise herauszukommen, dann sind eben doch die eigenen Bürger*innen noch etwas näher als die Weltgemeinschaft.
So bequem es gerade für die europäischen Staaten ist, mit dem Finger auf den US-amerikanischen Präsidenten zu zeigen, der sein »America first« ohne Skrupel durchsetzen will, an ihre eigenen Selbstverpflichtungen wollen sie offenbar auch nicht erinnert werden.
Dabei könnten diese nationalistisch-egoistischen Impulse die längerfristige Strategie auch für die technologisch fortgeschrittenen Staaten behindern. Denn die Produktions- und Lieferketten sind auch für Impfstoffproduktion längst globalisiert und auch die USA und Europa sind auf sichere Handels- und Lieferverträge angewiesen.