Sozialdarwinistische Rebellion
Teile der insurrektionalistischen Anarchist*innen nehmen Abschied von Linken und entdecken die »Pandemieskeptiker*innen« als Sympathieträger
Von Ewgeniy Kasakow
Mich wundert es nicht, wenn sich Menschen verabreden, um den öffentlichen Massenmedien zu zeigen, was sie von ihnen halten. … Schön, dass die bürgerliche Presse mal wieder eins aufs Maul bekommen hat.« Mit diesen Worten kommentiert ein Autor des Zündlumpens, eines »anarchistischen Wochenblatts« aus München, den Angriff mit Metallstangen auf ein Team der ZDF-Satiresendung »heute-show« am Rande der sogenannten Hygenie-Demo in Berlin im Mai. Man könnte denken, es ginge lediglich um Freude an der Auflehnung gegen die Regeln, weniger um das eigentliche Ziel der Demonstranten: »Solange derlei Taten zu einem Spektakel gemacht werden, über das sich … das Maul zerrißen wird, sind solche Hiebe gegen die herrschende Ordnung notwendig.«
Doch wer sich die Mühe macht, die Texte der insurrektionalistischen Anarchist*innen, einer Strömung, die seit dem Erscheinen des Manifestes »Der kommende Aufstand« im Jahr 2007 zunehmend von sich Reden macht, zu lesen, findet schnell heraus, dass nicht nur die martialischen Aktionsformen, sondern auch die Inhalte der »Pandemieskeptiker*innen« hier viel Sympathie erfahren. Antiaufklärung wird in den zahlreichen »aufständischen« Publikationen großgeschrieben. Dabei sehen sich die Insurrektionalist*innen weder als Linke noch als Rechte. Während einige insurrektionalistische Einflüsse, zum Beispiel bei dem Crimethinc.-Netzwerk, mit bewegungslinken Agenden nebeneinander existieren, fällt bei anderen Organen der Bruch mit den heutigen Linken radikaler aus.
Bei teilweise durchaus zutreffender Kritik an die Widersprüche des Kampagnenaktivismus, Szenemoral oder Aufgehen der radikalen Projekte in der »Zivilgesellschaft« treten Insurrektionalist*innen meist offen antikommunistisch auf. Die ursprünglich abwertende Bezeichnung »Nihilismus« wird positiv aufgegriffen. Die Organe wie »Die Erstürmung des Horizonts« oder »Alles geht weiter« knüpfen vordergründig an Max Stirner an. Mit dem sonstigen Individualanarchismus, der häufig nur als ein radikalisierter Liberalismus auftritt, hat ihre Argumentation indes wenig zu tun. Sich von Vermittlung verabschiedend, postulieren die Insurresktionalist*innen einen auf den nicht namentlich erwähnten französischen Denker Georges Sorel zurückgehenden Kult der Entschlossenheit. Eine Apologie des »reinen« Radikalismus jenseits der Links-Rechts-Einteilung, ließ Sorel Syndikalismus wie Nationalismus als »mobilisierende Mythen« bewundern.
So gesehen geht es bei der Zivilisations- und Technikkritik der Insurrektionalist*innen nicht um »Rückkehr zu Ursprung/Natur/Authentizität«, sondern um die Auflehnung gegen die Gegenwart als einen Wert an sich. Nicht die Ausbeutung, sondern die Kontrolle wird als Hauptproblem gesehen – was zwar Zweck und Mittel verwechselt, dafür jedoch Rebellion in alle Richtungen ermöglicht.
Die Differenzen werden in der Ausgabe 54 des Zündlumpen unter dem programmatischen Titel »Radikale Linke, ich trenne mich von dir!« zusammengefasst: »Ich kämpfe für meine Freiheit und ich suche nach Kompliz*innen, mit denen ich mich verschwören kann. Ich möchte keine neue Gesellschaftsordnung, denn die Vorstellung einer Gesellschaftsordnung ist bereits autoritär, sondern ich möchte mich befreien von jeder Ordnung und Moral, die mich in meinem Handeln einschränkt. Das bedeutet für mich aber auch besonders absolute Kompromisslosigkeit bezüglich meiner herrschaftsfeindlichen Ideen.«
War Insurrektionalismus anfänglich noch frei von Gegenüberstellung von »künstlich/natürlich«, nehmen Denkfiguren aus der rechten Ökologie aktuell zunehmend überhand. Ein Beispiel aus einem Text in der italienischen Zeitschrift Fenrir, der rasch in verschiedene Sprachen übersetzt wurde: »Das Projekt der modernen Wissenschaft war es immer, die Herrschaft der Menschen über die Erde auszuweiten, ihn über den Rest der Tierwelt zu stellen. Wie kann dieses Projekt in die Tat umgesetzt werden? Vor allem indem man die Natur unterwirft. Das ist nur möglich, indem man ihre Gesetze, die Funktionsweise der Lebewesen und der Materie, das Geheimnis des Lebens kennt. Eifersüchtig darüber, wie die lebenden Organismen fähig sind, sich in allen Sphären biologisch mit einer unglaublichen Fließfähigkeit und Komplexität selbst zu organisieren, versuchen die Wissenschaftler, diese Organisation künstlich im Labor zu reproduzieren, um sie zu kontrollieren und sie für ihre eigenen Zwecke zu benutzen.«
Folgt man den Thesen von Blättern wie Zündlumpen, Fernweh, In der Tat oder Kanaille sind an der Corona-Pandemie die Zivilisation, die Urbanisierung und die Mobilität schuld. Medizin mache Menschen abhängig und stünde der Freiheit im Wege. Wenn sich in den linken Medien darüber empört wird, dass auf einer Demo gegen die Pandemie-Maßnahmen eine Person mit einem Schild zu sehen war, auf dem eine durchgestrichene Spritze zu sehen ist und geschrieben steht: »Nie wieder: Diktatur, Dr. Mengele«, so wird darauf im Zündlumpen Nr. 65 mit viel Gesichtsbewusstsein gekontert. »…wer Impfungen und die moderne Medizin im Allgemeinen mit den nationalsozialistischen Gräueltaten in Verbindung bringt, die*der zeigt doch vielmehr Kontinuitäten in der modernen Medizin auf – die mit der Eugen…, ups, Genetik ja sogar zentrale Ideologiefragmente des Nationalsozialismus übernommen zu haben scheint –, als irgendetwas zu relativieren, oder?«
Die Folgen der eigenen Rezepte sind den gendernden Sozialdarwinist*innen durchaus klar: »Hier stellt sich mir die Frage, warum hier irgendwer glaubt, es wäre eine gute Idee, irgendjemandem vorzuschreiben, was sie*er zu tun hat – und zwar nicht, weil ich das allgemein ablehne, was ich natürlich tue, sondern auch, weil ich in einer solchen Lösung nicht mehr, ja sogar weniger Erfolgschancen sehe, als in der intuitiven antiautoritären Jede*r-kann-für-sich-selbst-entscheiden-Lösung … Sollte das medizinische System dabei überlastet werden, Pech gehabt.« (Zündlumpen, Nr. 57) Die Kosten der Freiheit sind nicht gerade niedrig.