Im Mahlwerk der Geopolitik
Linke in der Ukraine wünschen sich internationalen Austausch – was wollen sie sonst noch? Ein Besuch bei Sozialist*innen, Anarchist*innen, Gewerkschafter*innen und Feminist*innen in Lwiw
Von Jan Ole Arps, Sebastian Bähr und Nelli Tügel
An einem milden Frühlingsabend Anfang Mai heulen über Lwiw die Sirenen. Wir stehen vor einer Bar im Zentrum der Stadt, in der wir gerade noch mit Schweizer Trotzkist*innen, britischen Gewerkschafter*innen und Aktivist*innen aus der kleinen linken Szene der Ukraine ein Bier getrunken haben. Es wird langsam dunkel, aber die Straßen und Plätze sind noch voller Menschen. Die meisten ignorieren den Luftalarm. »Es ist sehr wichtig, dass diese internationalistische Delegationsreise stattfindet. Für uns ist sie wirklich von großer Bedeutung«, sagt Vitaly Dudin, einer unserer Gastgeber und Vorstand der linken Organisation Sotsialnyi Rukh, Soziale Bewegung, deren etwa 100 Mitglieder sich auf eine Handvoll Städte verteilen. »Wir verstehen uns als Internationalist*innen, und wir vermissen den Austausch mit Linken aus anderen Ländern sehr.«
Lwiw, unweit der Grenze zu Polen und traditionell eine Hochburg des ukrainischen Nationalismus, ist derzeit einer der sichersten Orte in der Ukraine, auch wenn am Vorabend ganz in der Nähe drei Umspannwerke von russischen Raketen getroffen wurden. In der Stadt haben in den vergangenen Monaten rund 200.000 Binnengeflüchtete aus allen Landesteilen Schutz gesucht. Es halten sich aber auch Hunderte, wenn nicht Tausende Journalist*innen aus der ganzen Welt hier auf. Am Tag unserer Ankunft ist die US-Schauspielerin Angelina Jolie in der Stadt, am Tag unserer Abreise soll Bono kommen; NGO-Mitarbeiter*innen und Politiker*innen geben sich die Klinke in die Hand. Doch obwohl sich Lwiw und inzwischen auch Kiew vor ausländischen Besucher*innen kaum retten können, gab es seit dem Beginn der russischen Invasion am 24. Februar nicht, was doch eigentlich so naheliegend erscheint: dass eine Delegation linker Aktivist*innen, Parlamentarier*innen und Gewerkschafter*innen in das Land fährt, das ukrainische Männer zwischen 18 und 60 nun nicht mehr verlassen dürfen, um dort, vor Ort, Gewerkschafter*innen und Aktivist*innen der sozialen Bewegungen zu treffen.
Wir sind Internationalist*innen und vermissen den Austausch mit Linken aus anderen Ländern sehr.
Vitaly Dudin, Sotsialnyi Rukh
Naheliegend wäre das, weil es ein Grundgedanke des linken Internationalismus ist, in gemeinsamer Diskussion, über Grenzen hinweg, zu verarbeiten, was auf der Welt geschieht, und Positionen dazu zu entwickeln. Ebenso selbstverständlich sollte es sein, an der Seite der Arbeiter*innenklasse und Unterdrückten zu stehen, die in einem Land kämpfen, in dem es nicht leicht ist, Linke*r zu sein und das von einem imperialistischen Staat überfallen wird. Ukrainische Linke, auch Linke aus anderen mittel- und osteuropäischen Staaten, haben bereits einige an die westliche Linke gerichtete Briefe, Threads und Texte verfasst und auf vielfältige Weise ihr Bedürfnis nach Austausch, Kontakt, Vernetzung und Solidarität zum Ausdruck gebracht. Zurückgeschrieben hat bisher kaum jemand.
Nun sind etwa zwei Dutzend Gewerkschafter*innen und Sozialist*innen aus neun europäischen Ländern sowie aus Argentinien der Einladung des Europäischen Solidaritätsnetzwerks mit der Ukraine, eines spontanen Zusammenschlusses vor allem aus dem trotzkistischen Spektrum, gefolgt – angeführt wird die Reisegruppe von Hanna Perekhoda, einer aus Donezk stammenden jungen Frau, die in Lausanne lebt. Ein paar Abgeordnete sind auch dabei. Søren Søndergaard, der für die rot-grüne Enhedlisten im dänischen Parlament sitzt, die finnische Abgeordnete Veronika Honkasalo vom dort an der Regierung beteiligten Linksbündnis, Paulina Matysiak von der polnischen Linkspartei Razem und Stefanie Prezioso, Abgeordnete von Ensemble à Gauche im Schweizer Parlament. Ebenso Mireille Fanon-Mendès-France, Präsidentin der nach ihrem Vater benannten Fondation Frantz Fanon internationale. Man könnte sagen: Es ist ganz schön spät für so eine Reise, mehr als zwei Monate nach Beginn der Invasion. Man könnte sagen: Es sind ganz schön wenige, dafür dass Westeuropa nah und groß ist und dortige Linke in der Regel viele Möglichkeiten haben zu reisen. Man könnte sagen: Es gibt sehr viel prominentere Linke als die, die hierher gekommen sind. Vitaly Dudin aber sagt: »Für uns ist das ein Riesenschritt.«
Landen Hilfsgüter in Supermarktregalen?
Dudin ist Arbeitsrechtler, seinen Lebensunterhalt verdient er in der Kommunikationsabteilung einer Behörde. Nebenbei berät er Arbeiter*innen, wie sie ihre Rechte durchsetzen, und Gewerkschaften, wie sie gegen Union Busting vorgehen können. Für diese Tage Anfang Mai ist er aus Kiew nach Lwiw gekommen. Auch andere haben sich auf den Weg in die Stadt nahe der Grenze gemacht, um an der zweitägigen Konferenz teilzunehmen, die Sotsialnyi Rukh und das Europäische Solidaritätsnetzwerk organisiert haben. Die Aktivist*innen und Gewerkschafter*innen kommen nicht nur aus Kiew, auch aus Uschgorod in Transkarpatien, ganz im Westen der Ukraine, wo am Tag zuvor ebenfalls russische Raketen eingeschlagen sind, oder aus noch weiter entfernten Orten wie Charkiw, Mariupol, Dnipro oder von der Krim. Viele von ihnen leben mittlerweile als Binnengeflüchtete in Lwiw.
Der Krieg hat das Leben aller Anwesenden auf den Kopf gestellt und bestimmt ihre politische Arbeit. Das wird deutlich, als am ersten Tag Gewerkschafter*innen berichten: Lokführer*innen wie Aleksandr Skiba aus Kiew transportieren nun Geflüchtete oder humanitäre Hilfe durchs Land. Allerdings landeten die Hilfsgüter, die in großen Mengen in die Ukraine kommen, nicht immer bei den Menschen, sondern oft in den Regalen großer Supermärkte. »Wir konnten noch nicht beweisen, dass die Hilfe auf illegalem Wege dorthin gelangt ist, wir haben uns an die lokalen Behörden gewandt, aber keine Antwort erhalten«, sagt Skiba.
Es ist nicht das einzige Problem, mit dem Skiba und seine Gewerkschaft, die Freie Gewerkschaft der Eisenbahner (VPZU), derzeit kämpfen. Viele Kolleg*innen haben durch Bomben und Beschuss ihre Häuser verloren. An Hilfszahlungen zu kommen, sei schwierig: »Der Staat schiebt alles auf lokale Behörden ab, die aber wahrscheinlich kein Geld dafür haben. Die Regierung wird also sagen, sie hätte alles getan, und die lokalen Behörden werden sagen, sie hätten kein Geld, weil die Regierung ihnen keines gegeben hat.« Skiba will den Kampf mit den Behörden aufnehmen, damit seine Kolleg*innen Unterstützung erhalten. Auch Myroslava Kaftan von der Unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft der Ukraine aus Chervonograd in der Nähe von Lwiw berichtet von der Übernahme staatlicher Aufgaben bei der Versorgung Geflüchteter, von denen einige der Gewerkschaft mehr vertrauten als dem Staat.
Einem Staat, der in den vergangenen Jahren, trotz aller Versprechen des 2019 mit großer Mehrheit gewählten Präsidenten Wolodymyr Selenskij, die Lebensverhältnisse der meisten Menschen nicht verbessern konnte. Vitaliy Dudin berichtet, dass Beschäftigte ihre – ohnehin oft sehr niedrigen – Löhne häufig nicht ausgezahlt bekämen; insgesamt vier Milliarden Hrywnja (rund 140 Millionen Euro) schuldeten Arbeitgeber*innen »ihren« Beschäftigten, die Hälfte dieser Lohnschulden beträfe den Öffentlichen Sektor und die staatlichen Unternehmen. Die zuvor schon miserablen Verhältnisse hätten sich durch den neuen Krieg natürlich drastisch verschärft, erklärt Dudin.
Kriegsarbeitsrecht und Parteienverbote
Zudem gilt nun das Kriegsrecht und das kürzlich erlassene Gesetz Nr. 2136. Viele zumindest auf dem Papier existierende Rechte von Arbeiter*innen wurden ausgesetzt, zum Beispiel der Anspruch, regelmäßig Lohn zu erhalten. Streiks waren in den vergangenen Jahren selten, nun sind sie komplett verboten. Kontrollen von Arbeitsstätten durch die staatliche Arbeitsinspektion finden nicht mehr statt.
Sotsialnyi Rukh wandte sich vor dem Krieg gegen die Deregulierungspolitik der Selenskij-Regierung, nun kritisiert die Gruppe die Einschränkungen durch das Kriegsrecht und den fehlenden Sozialstaat, der es für diejenigen, die eh schon wenig haben, noch schwerer macht. Nötig sei es, den Kampf gegen die mächtigen Oligarchen aufzunehmen und radikale soziale Reformen anzugehen, etwa die Verstaatlichung der profitabelsten und strategisch wichtigsten Unternehmen sowie die Besteuerung der Reichen. Die Aktivist*innen betonen auch: Es braucht dringend einen Schuldenschnitt, von ihrer Regierung fordern sie, die Auslandsschulden nicht mehr zu bedienen.
Russland präsentiere sich als letzte Bastion christlicher Werte, sagt Ksenia, auf deren Schläfe ein Satan-loves-you-Tattoo prangt.
In sozialen und demokratiepolitischen Fragen stehe man in Gegnerschaft zur Regierung, erklärt Denis Pilash, ebenfalls von Sotsialnyi Rukh. Die Gruppe lehnt nicht nur die Einschränkung von Arbeiter*innen unter dem Kriegsrecht ab, sondern kritisiert auch die Verbote einer Reihe von Parteien. Zuletzt waren Mitte März elf Organisationen wegen des Vorwurfs, mit Russland zu kollaborieren, für die Dauer des Kriegszustandes mit Aktivitätsverboten belegt worden, darunter kleinere Gruppen, aber auch die Union Linker Kräfte und die mit 44 Sitzen im Parlament vertretene Oppositionsplattform für das Leben. Größtenteils würden diese Parteien nur dem Namen nach in der Tradition der Linken und Arbeiter*innenbewegung stehen, erklärt Pilash. Tatsächlich handele es sich bei ihnen um kremltreue, nationalistische und reaktionäre Organisationen, die sich sozialistischer und kommunistischer Symbolik bedienten. Das staatliche Verbot und Repressionen aber seien nicht der richtige Weg – auch weil solche Maßnahmen und die Kriminalisierung sozialistischer Symbole stets drohten, gegen Linke gerichtet zu werden. Die Aktivist*innen lehnen jede Diskriminierung auf Grundlage von Sprache, Herkunft oder Nationalität ab, ebenso wie das 2015 erlassene Dekommunisierungsgesetz, das auf Basis einer Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus »totalitäre Symbole«, also auch sowjetische Symbole, verbietet.
Trotz all der Kritik an der Regierung: In der Verteidigung gegen die russische Invasion unterstütze man sie. Die Alternative wäre eine russische Besatzung des Landes – aus Sicht aller unserer Gesprächspartner*innen eine Katastrophe. Für die in Lwiw versammelten Linken gibt es schlicht keine Alternative zur militärischen Verteidigung der Ukraine. Die Aktivistin Ksenia vom Kollektiv Queer Lab erzählt, in manchen von russischen Truppen besetzten Städten würden bekannte queere Aktivist*innen festgenommen oder »verschwinden«. Auch wenn die Lage für queere Menschen in der Ukraine überhaupt nicht rosig ist, ist die Angst, unter russische Besatzung zu fallen, in der Community riesig, da in Russland auch Homofeindlichkeit zur Staatsräson gehört und »Homosexualitätspropaganda« verboten ist. Russland präsentiere sich als »letzte Bastion christlicher Werte« in Europa, sagt Ksenia, auf deren Schläfe ein »Satan-loves-you«-Tattoo prangt. Die Mitglieder ihrer Gruppe spenden die Hälfte ihres Einkommens an die Territorialverteidigung. Sie entscheiden im Kollektiv, an welche Einheiten die Spenden gehen.
Wo sind die Pazifist*innen?
So etwas ruft bei vielen Linken hierzulande Unbehagen hervor, wenn nicht Ablehnung. Was wiederum ukrainische Linke nicht begreifen. Aufrufe aus Europa, wie etwa massenhaft von den bewaffneten Einheiten zu desertieren, sofort die Waffen niederzulegen, einzig mittels pazifistischer Methoden die Invasoren zu vertreiben oder sofortige bedingungslose Verhandlungen zu führen, sorgen bei ihnen für Kopfschütteln – mindestens.
Gibt es keine Pazifist*innen in der Ukraine? In den vergangenen Monaten tauchten zumindest immer wieder Stellungnahmen von Yurii Sheliazhenko auf. Der Forscher lebt in Kiew und ist Vorsitzender und laut der in Lwiw Anwesenden auch einziges Mitglied der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung. In Online-Videos sprach er sich gegen den Krieg, aber auch gegen die bewaffnete Verteidigung des Landes aus. Sie erreichten unter Linken und Friedensbewegten in Westeuropa einige Verbreitung: als Beispiel für eine andere Stimme aus der ukrainischen Linken.
»Sheliazhenko, ein Linker?« Denis Pilashs Augenbrauen rutschen nach oben, als wir ihn am Abend des zweiten Tages darauf ansprechen. »Dazu kann ich zwei Sachen sagen: Erstens ist Yurii Sheliazhenko ein Einzelgänger, der keinerlei Verbindung zur Linken hat. Er ist niemand, den man bei linken Veranstaltungen treffen würde. Und zweitens bezeichnet er sich nicht mal selbst als links.« Ihm persönlich falle niemand aus der demokratischen und sozialistischen Linken ein, der sich gegen die bewaffnete Verteidigung gegen den russischen Angriffskrieg ausspreche, sagt Pilash. Auch alle Anarchist*innen, die er kenne, seien klar für den militärischen Widerstand gegen die russische Aggression.
Wir haben derzeit nicht den Luxus, 100 Prozent Pazifisten zu sein.
Yuri Chernata, Operation Solidarity
Serhii Movchan von der Gruppe Operation Solidarity ist einer von ihnen. In der Initiative haben sich Anarchist*innen und Antiautoritäre organisiert, sie sammeln Spenden für linke Aktivist*innen in der Ukraine, für die Unterstützung von Geflüchteten und Notleidenden, für militärische Schutzausrüstung. Von ihrer Unterstützung profitieren rund 100 Anarchist*innen und andere Linke, die sich den ukrainischen Territorialkräften angeschlossen haben. »Da existiert keine Diskussion, es gibt einen Konsens über die russische Invasion und die Notwendigkeit, sich gegen sie zu wehren«, bestätigt Movchan die Einschätzung Pilashs. Natürlich sei nicht jeder bereit oder in der Lage, selbst mit Waffen zu kämpfen – doch man sei sich innerhalb der Szene einig, dass der Widerstand der Soldat*innen die wichtigste Form der Verteidigung ist. »Mit einer militärische Niederlage der Ukraine hätten auch alle andere Formen des Aktivismus keinen Sinn mehr, ein politisches Leben wie bisher ist dann nicht mehr möglich«, so Movchan. Er betont, dass einige ukrainische Anarchist*innen durchaus das Militär ablehnten, aber man sich nun in seiner Praxis an die Realität anpassen müsste. Yuri Chernata, ebenfalls organisiert bei Operation Solidarity, fügt hinzu: »Wir haben derzeit nicht den Luxus, 100 Prozent Pazifisten zu sein.«
»Einige ausländische Linke meinten, wir sollten unsere Waffen doch lieber gegen unsere Herrschenden richten und die Revolution beginnen«, erzählt Serhii Movchan mit einem müden Lächeln. »Ja, wie wäre es, wenn ihr schon mal anfangt? Und wenn dann auch in Russland die Waffen gegen den Kreml gerichtet werden, können wir gern nochmal sprechen, dann ziehen wir bestimmt auch nach.«
Movchans bittere Worte zeugen von einem verbreiteten Dilemma: Die Position vieler Linker im Ausland kann mit »no war but class war« (kein Krieg außer Klassenkampf) beschrieben werden – doch was bedeutet das angesichts der meist schlechten Kräfteverhältnisse? Das theoretisch richtige Motto »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« scheint manchen eher als Vorwand zu dienen, nicht in Austausch – auch Auseinandersetzung – mit Genoss*innen in der Ukraine treten zu müssen, deren Forderungen nach militärischer Verteidigung und Waffenlieferungen einem nicht ganz geheuer sind.
Linke Hilfstruppen der Nato?
Sich positionieren, Solidarität mit ukrainischen Linken zu üben, bedeutet nicht, die zahlreichen Probleme und Widersprüche zu ignorieren: Die Gefahr einer weiteren Eskalation des Krieges ist real, ebenso ist die Sorge vor Vereinnahmung für die Kriegsziele der Nato-Staaten begründet. Es gibt keinen Anlass, die Verhältnisse in der Ukraine zu beschönigen, wie es die Regierenden in Paris oder Berlin tun, die mit Phrasen von »Freiheit« und »Demokratie« das Land zum Frontstaat ihres EU-Nationalismus machen. Die große Unterstützung unter ukrainischen Linken für die bewaffnete Verteidigung bedeutet die temporäre Integration in die Strukturen eines von einer neoliberalen Regierung geführten Staates, in dessen Armee auch extrem rechte Einheiten wie das Asow-Regiment kämpfen. Diese extreme Rechte könnte durch den Krieg gestärkt werden, politisch wie militärisch. Dem steht die Bedrohung gegenüber, von einer repressiven imperialistischen Macht besetzt und beherrscht zu werden. Aus Sicht unserer Gesprächspartner*innen derzeit eindeutig die größere Gefahr.
Dabei gibt es unter den linken Aktivist*innen in der Ukraine keine Illusionen gegenüber der eigenen Regierung oder der Agenda der Nato. »Natürlich hat die Nato in der Ukraine ihre Interessen«, sagt Movchan. Trotzdem: Der Krieg sei von Russland begonnen worden, man habe ihn sich nicht ausgesucht. »Wenn du wirklich ein Linker bist, dann höre den Menschen vor Ort zu und versuche zu verstehen, dass die Ukrainer*innen ihre eigene Subjektivität haben«, so Movchans Forderung.
Es ist nicht das erste Mal, dass der linke Blick durch eine ausschließlich geopolitische Brille in Ignoranz mündet und den Menschen vor Ort die Subjektivität abspricht, sie zu Schachfiguren degradiert. Selbst, als zu Beginn des Jahres ein Arbeiter*innenaufstand Kasachstan erschütterte, vermuteten einige sofort einen »von außen« gesteuerten Versuch, russisches Einflussgebiet zu beschneiden, und blickten entsprechend skeptisch auf die Aufständischen. Aus einer solchen Sicht ist die Ukraine nur das Schlachtfeld, auf dem zwei imperialistische Blöcke ihren Kampf ausfechten, die dort lebenden Menschen sind damit zur Passivität verurteilt.
Die Gleichgültigkeit vieler Ausländer*innen gegenüber den Folgen des Krieges schmerzt Aktive in der Ukraine, besonders angesichts der schweren Menschenrechtsverletzungen, die bereits begangen wurden. »Man konnte im ersten Moment nicht glauben, dass dies die Realität war – es sah aus wie in einem postapokalytischen Computerspiel«, erinnert sich Serhii Movchan. Der Anarchist hat die Orte Bucha, Irpin und Borodyanka besucht, in denen die russische Armee Gräueltaten an der Zivilbevölkerung verübte. Im Gespräch mit den Anwohner*innen sei das Ausmaß des Schreckens deutlich geworden, erzählt er. »Es ist absurd, wenn jemand behauptet, dass die Massaker von der CIA oder so inszeniert worden wären. Du kannst nicht diese ganzen Menschen in den Ortschaften manipulieren, dann müssten das alles Schauspieler*innen sein.« Theoretisch könne er sich erklären, wie Leute zu solchen Positionen kommen. »Doch wenn jemand in einer Diskussion so etwas wirklich ausspricht, werde ich wütend«, sagt Movchan.
Gefahr des nationalen Schulterschlusses
Aber birgt der Krieg nicht die Gefahr des nationalen Schulterschlusses der ohnehin schwachen Linken mit der Regierung? Und was ist mit den An- und Übergriffen, die bewaffnete Milizionäre zum Beispiel gegen Roma oder nicht weiße Geflüchtete begangen haben?
»Ja, die gibt es«, sagt Julian Kondur, ein Aktivist für die Rechte von Roma aus Kiew. Anfang März gingen Bilder von jungen Roma um die Welt, die an Laternenpfähle gefesselt waren, nachdem sie des Ladendiebstahls beschuldigt worden waren. »Natürlich gibt es Diskriminierung gegen uns in der Ukraine. Es ist zum Beispiel viel schwieriger für uns, in den Westen des Landes zu reisen«, sagt Kondur. Zugleich betont er, dass Tausende Roma in der Territorialverteidigung auf Seiten der Ukraine gegen die russischen Invasoren kämpften. »Ich hoffe auch deshalb, dass unsere Position in diesem Land nach dem Krieg eine bessere sein wird.«
Auf eine Verbesserung ihrer Position durch den Krieg hofft indes auch die extreme Rechte, die bei den letzten Wahlen in der Ukraine eher schwach abschnitt, aber immer noch ein gut organisierter und schlagkräftiger Faktor ist. Die Gefahr ist real: Was passiert, wenn die faschistischen Einheiten Kampferfahrung sammeln und an Ansehen in der Bevölkerung gewinnen? Die Linken, die in Lwiw zusammenkommen, kennen die ukrainischen Neonazis. Sotsialnyi Rukh konnte schon früher Veranstaltungen aus Sorge vor Übergriffen teilweise nicht öffentlich ankündigen, in manchen Jahren mussten die kleinen 1.-Mai-Demonstrationen der Gruppe wegen rechter Drohungen von Kiew nach Krywyj Rih verlegt werden. Seit Jahren werden die hier Versammelten attackiert und kämpfen auch gegen die rechte Gefahr.
Der Krieg legitimiert Gewalt, er produziert Männer mit Gewalterfahrung, und das lässt die Gewalt gegen Frauen anwachsen.
Marta Chumalo, NGO Women’s Perspectives
Nicht wenige Linke, die sich den Territorialverteidigungseinheiten angeschlossen oder eigene Verbände gegründet haben, berufen sich dabei auch auf die Erfahrung des Maidan-Aufstands von 2014, als sie der Übermacht der extremen Rechten nichts entgegenzusetzen hatten. Damals waren Linke von Rechten von den Plätzen gejagt oder gezwungen worden, ihre Banner und Flugblätter abzulegen, wenn sie doch bei den Protesten bleiben wollten. Es gab das Massaker im Gewerkschaftshaus in Odessa am 2. Mai 2014, als nach Straßenschlachten zwischen nationalistischen Fußballfans und prorussischen Maidan-Gegner*innen das Haus in Brand gesetzt wurde, in das sich die Maidan-Gegner*innen geflüchtet hatten; 48 Menschen starben an jenem Tag. Die extreme Rechte habe sich in dieser Zeit den Ruf erworben, dass man bei der Verteidigung gegen die Angriffe der Polizei auf sie zählen könne. Nicht wieder wehrlos und ohnmächtig dazustehen, ist eines von vielen linken Motiven, sich dieses Mal ebenfalls zu bewaffnen.
Wenn nun Ausländer*innen sie im Internet über Asow belehren, sich einzig für die extreme Rechte in der Ukraine interessieren oder sie gar als auf links gedrehte Nationalist*innen bezeichnen, sei das schon deprimierend, sagt Denis Pilash. Der Sozialist betont, dass er und seine Genoss*innen von Sotsialnyi Rukh sich als Gegner*innen aller imperialistischen Mächte verstünden. Er sei überzeugt, dass der Kampf gegen den russischen Imperialismus, den sie derzeit zu führen gezwungen seien, antiimperialistische Kräfte überall auf der Welt stärken könne – während ein Sieg Russlands die internationale Linke weiter schwächen werde. Die meisten Linken, mit denen wir reden, glauben auch, dass die Nazis nicht massiv vom Krieg profitieren werden. Verglichen mit 2014 spielten sie als militärischer Faktor heute eine untergeordnetere Rolle. Eine schwierige Frage bleibt es.
Verhärtungen und Pragmatismus
Freitag, 6. Mai, letzter Konferenztag. Im Block »Geschlechtliche Dimension des Krieges« berichten feministische Aktivist*innen und Mitarbeiterinnen von Frauenrechts-NGOs über die sexuelle Gewalt, die Frauen im Zuge des Krieges erleiden müssen. Yana Wolf von der feministischen Gruppe Bilkis aus Charkiw, die, wie auch alle anderen Mitglieder ihrer Gruppe vor dem Krieg nach Lwiw fliehen musste, spricht über die schwere sexuelle Gewalt an Frauen in den besetzten Gebieten. Von vielen Orten wurde über systematische Vergewaltigungen durch russische Soldaten berichtet, Frauen würden zur Kriegsbeute, und die bekannten Fälle seien nur die Spitze des Eisbergs, da es schwer sei, über solche Schrecken zu sprechen. Die Invasionsarmee setze darauf, die Menschen im Land zu unterwerfen und emotional zu brechen, und dieses Ziel werde an Frauenkörpern vollzogen, sagt Wolf. Doch nicht nur von Seiten des Aggressors drohe mehr Gewalt gegen Frauen, auch in der ukrainischen Gesellschaft habe der Krieg die patriarchale Gewalt verschärft und traditionelle Geschlechterrollen gestärkt.
Marta Chumalo, deren NGO Women’s Perspectives Hilfestellung und Beratung für Frauen in Notlagen anbietet und Frauen auf dem Arbeitsmarkt unterstützt, bestätigt das. Chumalo berichtet von einem deutlichen Anstieg häuslicher Gewalt, begünstigt nicht nur durch den psychischen Stress der Bombardierungen und die Enge in den Schutzräumen, sondern auch dadurch, dass viele Männer zu Hause auf ihre Einberufung warteten, nun zu Kriegern werden sollen, die an die Front gehen – und denen Frauen zu Diensten sein sollten. Die Folge seien mehr verbale Angriffe und mehr gewalttätiges Verhalten gegenüber Frauen. »Der Krieg legitimiert Gewalt, er produziert Männer, die Gewalt ausgeübt haben. Wir beobachten, dass dieser Diskurs die Gewalt gegen Frauen anwachsen lässt«, sagt Chumalo. Auch Übergriffe anzuzeigen, sei schwieriger geworden. Wenn Frauen entsprechende Vorfälle bei der Polizei meldeten, bekämen sie nicht selten zu hören, man habe im Moment wichtigeres zu tun; die anzeigenden Frauen sollten doch bitte nach dem Krieg wiederkommen. Ihre Organisation versuche, Frauen in Notlagen zu unterstützen, ihnen einen Schutzraum zu bieten, aber der Bedarf sei riesig.
Auch Abtreibungen würden schwieriger, selbst nach Vergewaltigungen, erzählt Yana Wolf. In der Ukraine gilt eigentlich ein liberales Abtreibungsrecht, das noch aus Sowjetzeiten stammt. Bis zur zwölfte Schwangerschaftswoche sind sie legal, bis zur 22. unter bestimmten Umständen möglich. Doch Frauen würden häufig in ihren Familien oder auch von Ärzt*innen unter Druck gesetzt, keine Abbrüche vorzunehmen. Der Krieg biete den Rahmen, in der ein Anti-Abtreibungs-Diskurs gedeihe. Die Appelle an Frauen, Nachwuchs für die Nation zu produzieren, nähmen zu.
Auch Wolfs Gruppe unterstützt die militärische Verteidigung gegen die russische Armee. Der russische Angriffskrieg habe Tod, Zerstörung, Schmerz, Angst und psychische Verheerungen über die Ukraine gebracht, er stärke die patriarchalen, rassistischen und ableistischen kapitalistischen Verhältnisse, und er müsse gestoppt werden. Wolf berichtet, dass sich auch eine Aktivistin der Gruppe den Territorialverteidigungskräften angeschlossen habe.
Wenn wir die russische und ukrainische Bevölkerung zu Feinden erklären, wird das die Russen noch mehr zusammenschweißen.
Aleksandr Skiba, Eisenbahngewerkschafter
In Zeiten des Krieges die Hand weiter ausgestreckt zu halten, bleibt herausfordernd. Yana Wolf, auf ihrer Jacke ein Patch in den ukrainischen Landesfarben, antwortet während der Konferenz auf die Frage, ob ihre Gruppe Kontakt zu russischen Feminist*innen habe, mit nein. Derzeit habe sie danach auch kein Verlangen. Der Eisenbahngewerkschafter Aleksandr Skiba hat eine andere Perspektive. »Sobald wir anfangen, die russischen und die ukrainische Bevölkerung zu Feinden zu erklären, wird das die Russen mehr für den Krieg zusammenschweißen«, glaubt der Lokführer. Auch unter den russischen Besatzungssoldaten gebe es Menschen, die sich anständig verhielten. Zudem seien viele enttäuscht davon, dass sie als Kanonenfutter verheizt würden, hätten ihm Bekannte erzählt, die mit russischen Soldaten ins Gespräch gekommen seien. Wenn man die demoralisierten Soldaten stärker »aufwiegeln« und ihnen die Wahrheit aufzeigen könne, gebe es vielleicht die Möglichkeiten, den Krieg schneller zu beenden.
Skibas pragmatischer Optimismus ist erfrischend, auch angesichts der Verhärtungen, die unter dem Eindruck der Grauen des Krieges ebenfalls zu beobachten sind. Gerade deshalb wäre es so wichtig, den Austausch mit den Genoss*innen in der Ukraine aufzunehmen. Zugleich erfordert eine linke Antikriegspolitik, die Suche nach Handlungsmöglichkeiten von unten nicht in der militärischen Logik aufzulösen. Auch wenn Skibas Vision derzeit weit entfernt scheint – wenn Linke hierzulande sich nicht mit rechthaberischer Kommentierung des Krieges aus der Ferne zufrieden geben, wenn sie die Suche nach einer linken internationalistischen Politik nicht dem geopolitischen Denken opfern wollen, dann ist es höchste Zeit, die Passivität zu überwinden und Kontakte zu knüpfen. Zumindest in der ukrainischen Linken ist der Wunsch danach riesig.
Eine englische Übersetzung des Artikels gibt es hier.