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|Thema in ak 705: Armut & Armenbestrafung

Alltags­barbarei in Gerichtssälen

Fernab der Öffentlichkeit wird in Berlin-Tempelhof gegen arme Menschen prozessiert – Eindrücke aus einer Langzeit­beobachtung 

Von Niels Seibert

Eine Rentnerin und ein Rentner, jeweils mit Rollator, vor einem Café mit dem Namen "Cafe Happiness"
Wer arm ist und vor Gericht landet, kann keine Gnade erwarten. Foto: Matthias Berg. Collage: Fleur Nehls

In den Gerichtssaal dringt kein Tageslicht. Die lange, milchglasartige Fensterfront an der rechten Raumseite ist von einem weißen Vorhang bedeckt. An den hellblauen Wänden sind Deckenfluter angebracht, die mit den Leuchten in der abgehängten Zwischendecke den Raum künstlich erhellen.

Wir befinden uns im Verhandlungssaal der Außenstelle des Amtsgerichts Tiergarten, der »Berliner Sonderabteilung für Armutsbestrafung«, wie sie vom Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) genannt wird. Hier am Tempelhofer Damm 12 verhandeln zwei Richter*innen die sogenannten beschleunigten Gerichtsverfahren, meist wegen Diebstahls geringwertiger Sachen oder Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs ohne Fahrschein.

Angeklagt sind in der Regel arme, sozial benachteiligte, kranke oder – wie sie es selbst formulieren – »vom Schicksal gebeutelte« Menschen, die kein einfaches Leben führen. Und denen dieses Leben immer wieder zusätzlich schwer gemacht wird. Während Ladendetektive bei Akademiker*innen, die zum Beispiel einen Lippenstift einstecken, mal ein Auge zudrücken und von einer Anzeige absehen, kennen sie bei diesen Menschen keine Gnade. Das gilt auch hier vor Gericht: Einstellungen wegen Geringfügigkeit sind äußert selten, eine Einstellung gegen Sozialstunden oder eine Verwarnung mit Strafvorbehalt hat es in insgesamt 100 von mir beobachteten Gerichtsverhandlungen kein einziges Mal gegeben.

750 Euro Strafe für Klopapier-Diebstahl

An einem Mittwoch im Februar 2024 werden über die Lautsprecher die Prozessbeteiligten in einer Strafsache wegen Ladendiebstahls in den Sitzungssaal gerufen. Eine Person tritt ein. Der 1965 in Berlin geborene, kinderlose Mann hinkt auf den Stuhl zu, der für die Angeklagten vorgesehen ist. Zunächst werden seine Personalien aufgenommen und die Einkommensverhältnisse geklärt. Er lebt von Erwerbsunfähigkeitsrente, seine monatliche Miete in Höhe von etwa 518 Euro zahlt das Amt. Er erzählt, dass seine Eltern, die für sein Leben sehr wichtig waren, 2015 und 2018 verstorben sind. Seitdem ist er weitgehend auf sich allein gestellt. Er ist in psychiatrischer Behandlung und beim Gehen beeinträchtigt aufgrund eines Autounfalls vor wenigen Jahren, bei dem er angefahren wurde und danach keine hinreichende ärztliche Behandlung in Anspruch nahm.

Die Anklage wirft ihm vor, dass er im November 2023 in einer Rossmann-Filiale im Prenzlauer Berg mit einer Packung Toilettenpapier im Wert von 6,95 Euro den Laden verlassen wollte, ohne zu bezahlen. Daran wurde er gehindert. Die Ware ist im Geschäft verblieben, der Drogerie kein Schaden entstanden. Er hat sich in der Filiale entschuldigt, woraufhin eine sogenannte Vertragsstrafe in Höhe von 75 Euro ausgesprochen und Ratenzahlung vereinbart wurde. Trotzdem hat der Drogeriemarkt an der Strafanzeige festgehalten und deshalb ist es zu dieser Gerichtsverhandlung gekommen.

Da er schon ähnliche kleine Diebstähle von Waren im Verkaufswert von wenigen Euro begangen hat, beantragt die Staatsanwaltschaft 50 Tagessätze zu je 15 Euro. So lautet auch das Urteil: Insgesamt also 750 Euro. Außerdem muss der Verurteilte die Kosten des Verfahrens tragen. 30 Tagessätze sollen einem Netto-Monatseinkommen entsprechen. Eine Strafe von 50 Tagessätzen wie in diesem Fall bedeutet, einen Betrag in Höhe der Einkünfte von über anderthalb Monaten zahlen zu müssen. Einige Verurteilte, die das Geld nicht aufbringen können, werden die Strafe ersatzweise im Knast absitzen. Bei 50 Tagessätzen heißt das aktuell insgesamt 25 Tage Haft.

Verurteilungen im 15-Minuten-Takt

Der beschriebene Fall des knapp 60-jährigen Berliners steht exemplarisch für die etwa 20 bis 30 Fälle, die wöchentlich am Tempelhofer Damm terminiert und im 15-Minuten-Takt abgeurteilt werden. Vor allem arme Menschen werden dort bestraft, die wegen Geldmangels Lebensmittel, Hygieneartikel, Kleidung und ähnliches stehlen wollten oder kein Ticket für den ÖPNV gelöst haben. Weitere Beispiele gefällig?

Einem Paar, das Grundsicherung vom Jobcenter erhält, wurde vorübergehend der Strom abgestellt, weil es die Stromrechnungen nicht zahlen konnte und eine Ratenzahlungsvereinbarung nicht gelang. Der Mann bereitete für seine, nach einem Autounfall verletzte und arbeitsunfähige, Freundin die Mahlzeiten zu. Für das Pürieren ihres Essens nutzte er in dieser Notlage Strom einer Außensteckdose unter dem Balkon. Wegen »Entziehung elektrischer Energie« wurden beide von der Wohnungsverwaltung angezeigt und schließlich zu jeweils 30 Tagessätzen à 15 Euro verurteilt.

Zwei junge Menschen stehen an einem Greifautomaten, aus dem man mit etwas Glück Kuscheltiere herausmanövrieren kann
Richter*innen können sich offenkundig nicht in die Angeklagten hineinversetzen. Ihr Leben, ihre Probleme, ihre Krankheiten, ihr Hunger – das alles ist ihnen fremd. Foto: Matthias Berg. Collage: Fleur Nehls

Ein 1977 in Berlin geborener Mann, der sich selbst als »Wodka-Fan« bezeichnet, soll unter Alkoholeinfluss eine Flasche seines Lieblingsgetränks in Wert von knapp acht Euro bei Edeka mitgenommen haben. Er hat knapp 20 Eintragungen im Strafregister und wurde zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu 15 Euro verurteilt.

Eine Rentnerin legte Tesafilmrollen und Limonade im Wert von etwa acht Euro bei Woolworth in ihren Rollator und wurde des Diebstahls beschuldigt. Daraufhin zahlte sie eine Vertragsstrafe im Laden. Da die ältere Dame keine Vorstrafen hat, war die Richterin zur Einstellung bereit, aber die Rechtsreferendarin auf dem Platz der Staatsanwaltschaft meinte, ihr Ausbilder, der Staatsanwalt, habe ihr gesagt, dass keinesfalls eine Einstellung des Verfahrens infrage komme. Sie könne deshalb einer Einstellung nicht zustimmen, müsste ihren Ausbilder anrufen und Rücksprache halten. Die Richterin räumte dafür keine Zeit ein, zeigte aber deutlich ihre Unzufriedenheit: Dann solle der Ausbilder zur Hauptverhandlung kommen, um sich ein Bild zu machen, erwiderte sie. Die Verhandlung ging weiter, die Referendarin forderte in ihrem Plädoyer 20 Tagessätze zu 15 Euro. Das Urteil lautete dann fünf Tagessätze zu 15 Euro.

Zwei Monate Knast auf Bewährung ist das Ergebnis eines Prozesses gegen eine in Iran geborene Bäckereiangestellte, weil sie bei Rossmann mit einem Shampoo im Wert von 4,40 Euro in der Handtasche an der Kasse vorbeiging. Sie hat sieben Registereintragungen, die letzte, weil sie eine Packung Tee und Sonnenblumenkerne im Gesamtwert von 4,43 Euro gestohlen haben soll.

»Sie können doch nicht hier stillen«, empört sich die Richterin. »So machen wir hier nicht weiter!«

Viele der Angeklagten stehen nicht zum ersten Mal vor Gericht. Deshalb folgen immer höhere Urteile bis hin zu Haftstrafen. Beim zwölften Diebstahl kann es dann auch mal zu einer Gefängnisstrafe ohne Bewährung kommen, wie im Fall einer Angeklagten, die ein fünf Monate altes Baby hat.

Schon mit dem Verhängen einer Geldstrafe bei Armutsdelikten wird die Justiz einer angeblich beabsichtigen Prävention nicht gerecht. Die Strafe hilft nicht gegen die vielfältigen Probleme, die die Menschen haben, die diese Delikte begehen – im Gegenteil. Oft erschwert sie die weitere Lebensführung unverhältnismäßig stark. Die im Wiederholungsfall immer höheren Strafen tragen offensichtlich auch nicht dazu bei, die Angeklagten zu »erziehen« und von weiteren Delikten abzuhalten. Die unbeholfene Eskalationslogik des Gerichts – bis hin zu Haftstrafen – widerspricht zudem einer rationalen Strafzumessung: Irgendwann stehen die Urteile nicht mehr in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Straftat, sie sind stattdessen auf Vergeltung ausgerichtet und menschenunwürdig.

»Ich spreche jetzt!«

Zu einem weiteren Termin werden ein Mann und eine Frau aufgerufen. Der Mann trägt ein etwa sechs Monate altes Baby auf dem Arm, das offensichtlich krank ist. Mit in den Saal kommt auch eine etwa Siebenjährige. Die Angeklagten haben sich noch nicht gesetzt, da fragt die Richterin: »Haben Sie keine Landsleute, bei denen sie ihre Kinder lassen können?« Auf Bitte der Vorsitzenden wird die Siebenjährige aus dem Saal geschickt. Draußen ist sie allein. »Sie müssen«, so die Richterin auf das Baby bezogen, »sicherstellen, dass das Kind ruhig bleibt, sonst können wir nicht verhandeln«. Und gleich darauf, als das Kleinkind ein kurzes Geräusch von sich gibt, kommentiert die Richterin: »Sehen Sie, es geht schon los.«

Das Paar kommt aus Moldawien, beide sind etwa 30 Jahre alt und leben seit fünf Monaten in Deutschland. Sie sind angeklagt wegen gemeinschaftlichen Diebstahls von Kinderkleidung. Ein Dolmetscher übersetzt die Befragung. Die Richterin möchte zunächst wissen, warum die beiden nach Deutschland gekommen sind und ob sie hier bleiben wollen. Dann fragt sie nach den Motiven des Ladendiebstahls. Die Mutter antwortet, sie könne sich ihr Handeln nicht erklären und es sei nicht richtig, was sie getan haben. Es sei »für unsere Kinder« gewesen. Derweil bespaßt der Vater liebevoll das Baby, damit es nicht weiter quengelt.

»Versuchen Sie das Kind draußen abzugeben«, rät die Richterin. Als der Vater mit dem Kleinkind hinausgeht, beginnt es zu schreien. Die Mutter folgt dem Vater und kommt nach kurzer Zeit, ihr Kind stillend, wieder herein. »Sie können doch nicht hier stillen«, empört sich die Richterin. »So machen wir hier nicht weiter!« Nach einer Unterbrechung betritt die Mutter wieder den Saal und fragt, ob sie stehen bleiben darf mit dem Kind auf dem Arm.

Schließlich beginnt die Amtsanwaltschaft, die in diesen Schnellverfahren die Aufgaben der Staatsanwaltschaft wahrnimmt, mit ihrem Plädoyer. Währenddessen äußert sich der Angeklagte, womöglich hat er Verständnisfragen zur Übersetzung. Diese sind aber nicht vorgesehen: »Bitte unterbrechen sie mich nicht!« Bei der zweiten Äußerung des Angeklagten wird die Amtsanwältin noch etwas lauter: »Ich spreche jetzt!« Das anschließende Urteil lautet 50 Tagessätze für den Mann und wegen einer Eintragung im Strafregister 80 Tagessätze für die Frau, jeweils zu 15 Euro. Auch dieser Fall ist ein Beispiel dafür, wie unwürdig Angeklagte behandelt werden. Von Verstößen gegen die UN-Kinderrechtskonvention mal ganz abgesehen.

Nicht auf Augenhöhe

Der Verhandlungssaal, in dem all das stattfindet, liegt im Gebäude des Landeskriminalamtes Berlin am Tempelhofer Damm. Im Eingangsbereich des Komplexes sitzen uniformierte Polizeibeamt*innen. Bekanntermaßen sind das keine Freund*innen von sozial benachteiligten Menschen, die oft in Konflikt mit der Ordnungsmacht geraten. An ihnen muss jede*r vorbei zur unscheinbaren Tür des Gerichts, die zum Sicherheitscheck führt. Schon als Person, die freiwillig hierherkommt, fühlt man sich an diesem Ort nicht sehr wohl. Die ganze Atmosphäre schüchtert ein. Im Saal haben die Richter*innen das Hausrecht. Sie rufen die Prozessbeteiligten auf, sie sagen, wo sich die Angeklagten hinzusetzen haben, sie erteilen das Wort und weisen Angeklagte an, bei der Urteilsverkündung ihre Hände aus den Hosentaschen zu nehmen.

Richter*innen und Amtsanwält*innen wirken für viele Angeklagte dabei wie eine einheitliche Institution, der sie gegenüberstehen. Und dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man die gemeinsamen Pausengespräche der Jurist*innen mit anhört: So reden sie beispielsweise despektierlich über einen gerade Verurteilten: »Was war das für einer?«, und sind sich in ihrer Bewertung einig: »Der hat uns doch angelogen.«

Wer noch an die Gerechtigkeit der deutschen Justiz glaubt, wird hier eines Besseren belehrt.

Dass die Angeklagten nicht als Gleiche unter Gleichen behandelt werden, zeigt sich auch daran, wie mit ihnen gesprochen wird. Ein weiteres Beispiel: In Anwesenheit eines Dolmetschers spricht eine Richterin die Angeklagte nicht persönlich an, sondern über den Übersetzer in dritter Person, etwa: »Warum ist sie nach Deutschland gekommen?« Das wirkt auf Dauer abschätzig. Nach Ende der Urteilsverkündung wendet sich die Richterin erneut an den Dolmetscher: »Dann sind wir fertig. Dann kann sie wieder gehen.«

Von Richter*innen und Amtsanwält*innen könnte man einen professionellen Umgang mit den Angeklagten erwarten. Aber allein die räumliche Gestaltung erlaubt keine Gespräche auf Augenhöhe: Die Einzelrichter*innen sitzen an einem großen, ausladenden Tisch mit Sichtschutz bis zum Boden, der einen Blick auf Unterkörper, Beine und Füße verstellt. Sie sitzen erhöht, auf einem Podest über allen anderen Prozessbeteiligten und blicken auf die Angeklagten herab.

Die Angeklagten sind in den Gerichtsverfahren meist keine handelnden Subjekte und werden dazu auch nicht ermächtigt. Vielen fällt es ohnehin schwer, der Verhandlung zu folgen. Richtig herausfordernd wird es, wenn sie selbst agieren sollen und beispielsweise den Kaufhausdetektiv befragen dürfen. »Haben Sie Fragen an den Zeugen?«, adressiert eine Richterin eine Angeklagte. Diese widerspricht zunächst der Aussage des Detektivs: »Ich hatte einen Kassenbon!« und wird sofort zurechtgewiesen: »Das ist keine Frage. Haben Sie Fragen an den Zeugen?« Ohnehin von der Situation überfordert, schafft es die Angeklagte nicht, die Frage zu formulieren, ob es möglich sei, dass der Zeuge ihren Kassenbon übersehen habe. Das geschickte Formulieren von Fragen und die Vernehmung von Zeug*innen lernen selbst Rechtsanwält*innen erst in der Praxis, und es ist nicht unüblich, dass sie dabei auch anfänglich Fehler machen. Das und wie sie (Beweis)Anträge stellen können – beispielsweise einen Antrag auf Ratenzahlung –, wissen die Angeklagten in der Regel nicht. Nur selten haben sie eine*n bevollmächtigte*n Anwält*in dabei, deren Anwesenheit oft automatisch für eine andere, menschlichere Verhandlungsatmosphäre sorgt und zu einem milderen Urteil oder gar einer Einstellung des Verfahren gegen Zahlung an eine gemeinnützige Organisation führen kann.

Inflationsfolgen

Im Januar 2023 ergab eine Nachfrage der Linksfraktion in Hamburg, dass Ticketkontrollen überdurchschnittlich in armen Vierteln stattfinden. Ob dies auch für Berlin gilt, ist nicht bekannt. Denkbar wäre es, jedenfalls liegen viele U-Bahn-Stationen, in denen Angeklagte beim Fahren ohne Ticket erwischt wurden, auf den Linien der U1, U5, U6, U7 und U8 in Kreuzberg, Friedrichshain, Wedding oder Neukölln.

Die unter anderem von Sozialverbänden geforderte Einführung bedarfsgerechter Regelsätze wäre ein Schritt dahin, Armutskriminalität zu reduzieren. Allein die Erhöhung des Bürgergelds zu Jahresbeginn hat nach Auskunft mehrerer alleinstehender Angeklagter zu einer spürbaren Verbesserung beigetragen, wie sie vor Gericht berichten. Einer von ihnen hob hervor, jetzt »besser über die Runden« zu kommen.

Für das vergangene Jahr 2023 haben Polizeistatistiken noch einen sprunghaften Anstieg bei Ladendiebstählen festgestellt, wie die Lebensmittelzeitung Anfang April 2024 ausgewertet hat. Ob mit Inflation und Preissteigerungen seit 2022 auch die Zahl der Verfahren in Tempelhof angestiegen ist, können die Berliner Senatsverwaltung und die Pressestelle der Justiz nicht sagen. Der Senatsverwaltung ist allein schon die Frage, wie viele Verfahren in Tempelhof in einem Jahr stattfinden, »zu speziell«, wie sie im Februar 2024 auf Anfrage mitteilte. Die erfragten Daten »liegen der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz nicht vor«. Auch die Pressestelle der Berliner Strafgerichte schreibt, dass sie nur über die Anzahl der in Moabit durchgeführten Verhandlungen eine interne Übersicht habe. Für die Außenstelle am Tempelhofer Damm werden diese Zahlen nicht registriert, so die Pressestelle.

Mächtiger als Menschen

An den Verhandlungen in Tempelhof gibt es kaum öffentliches und politisches Interesse. Sie gehören nicht zu den ausgewählten Gerichtsverfahren, die von der Berliner Justiz gegenüber Medienvertreter*innen beworben werden. Die Pressestelle hat sogar Schwierigkeiten, anstehende Termine in der Außenstelle Tempelhof zu nennen, weil sie ihr in der Regel nicht vorliegen. Dabei gehören die Verfahren zum Justizalltag und die Delikte, vor allem aber die angeklagten Menschen, sind Teil dieser Gesellschaft.

Kommen doch einmal Pressevertreter*innen, fallen sie auf und bleiben noch nach Jahren in Erinnerung – wie Ronen Steinke von der Süddeutschen Zeitung, der hier für sein Buch über Klassenjustiz, »Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich«, recherchierte und auf den mich Richter*innen mehrmals aufmerksam machten: Es sei schon mal ein Journalist einer Tageszeitung dagewesen.

Die Verfahren in diesem Gerichtssaal hätten allerdings mehr Öffentlichkeit verdient. Prozessbeobachter*innen können teils tiefe menschliche Abgründe und eine alltägliche, oftmals normal empfundene staatliche Barbarei erleben. Wer noch an die Gerechtigkeit der deutschen Justiz glaubt, wird hier eines Besseren belehrt.

Die Schlussfolgerung, jedes noch so kleine Delikt müsse strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen und im Wiederholungsfall noch härter bestraft werden, wird schnell zur Alltagsroutine der Richter*innen dieser Sonderabteilung. Darüber nachzudenken, was den Menschen wirklich helfen könnte, gehört nicht in ihren Tätigkeitsbereich. Sie können sich oft scheinbar gar nicht erst in die Angeklagten hineinversetzen und auch nicht ihre Gedankengänge, ihre Probleme, ihre Krankheiten, ihren Hunger, ihre Armut und ihre soziale Klassenzugehörigkeit nachempfinden. Die Angeklagten, die vor ihnen sitzen, und deren Leben sind ihnen fremd.

Außerdem sind »die Institutionen mächtiger als die Menschen«, wie der junge Karl Marx und der alte Johannes Agnoli formulierten. Insofern sind nicht allein einzelne vorurteilsbeladene Richter*innen das Problem. Wenn diese versetzt werden oder in den Ruhestand gehen, werden die nächsten nachkommen, sich in den gewachsenen Strukturen einfinden und mit einer ähnlichen Konsequenz handeln, eventuell nur etwas subtiler. Das zugrunde liegende System aber, mit seiner Bestrafungslogik, bleibt bestehen.

Niels Seibert

hat von August 2022 bis Februar 2024 insgesamt 100 Gerichtsverfahren in Berlin-Tempelhof besucht und erstmals im April in nd.Die Woche über die Praxis der Armutsbestrafung geschrieben, siehe: dasnd.de/1181178.

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Thema in ak 705: Armut & Armenbestrafung

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